open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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hätte. Da sagt Tim: „Tim sucht seine Mutter und kann sie<br />
nicht finden.“<br />
Am Abend darauf sitze ich neben Tim am Klavier. Wieder<br />
wühlt er Klänge auf. In seinem Notenblock hat er am Anfang<br />
noch helle Klänge aufgezeichnet. Ich wundere mich, dass er<br />
jetzt nur im unteren Register spielt. Ich spiele ein paar<br />
Tonfolgen weit rechts. Er lauscht meinen Klängen, ohne mit<br />
dem Klavierspielen aufzuhören. Nach einer Weile schießt aus<br />
dem Nichts der Zeigefinger seiner rechten Hand in die hohe<br />
Lage. Nachdem er einen Ton erwischt hat, geht seine Hand<br />
wieder ins Tiefe. Ich weiß nicht, wie viele Stunden vergehen.<br />
Kurz bevor ich aufstehe, höre ich eine Veränderung in<br />
seinen Farben. Höhere, leichtere Töne. Zuerst tastet er sich<br />
hinein, dann wühlt er auch hier. Es scheint mir, als ob sich<br />
ein Knoten löst. Die Töne sind nicht mehr wie ein Wollknäuel,<br />
sondern eher wie das Meer, das sich zum Wind bewegt.<br />
Auf einmal lacht er. Ich lege meine Hand auf seine Schulter,<br />
um ihn zu loben, doch Tim zuckt zusammen. Ich entschuldige<br />
mich bei ihm und halte meine Hände ganz fest um meinen<br />
Körper, um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht mehr anfassen<br />
werde. Tim sieht mich mit einem seltsamen Blick an. Ein Blick,<br />
als ob er nicht wirklich wüsste, was er möchte. Ein Blick,<br />
der sagt „Fass mich nicht an. Fass mich nicht an, aber<br />
berühr mich.“<br />
Als ich einen Abend später in die Kapelle eintrete, lege<br />
ich meinen Koffer ab. Tim, der bemerkt hat, dass heute etwas<br />
anders ist, schaut zu. Nachdem ich das Saxophon zusammengebaut<br />
habe, zeige ich ihm, dass er seine Hand über mein<br />
Saxophon halten soll. Als ich einen tiefen Ton, bei dem alle<br />
Klappen geschlossen sind, spiele, zieht er seine Hand sofort<br />
zu sich und schaut mich vorwurfsvoll an. Doch langsam legt<br />
er seine Hand wieder an den Trichter, und ich blase Luft<br />
durch den Klangkörper. Ich sehe, wie seine linke Mundhälfte<br />
nach oben zieht. Er spürt die Schwingung der Luft und freut<br />
sich. Fordernd hält er seine Hand so lange über das Instrument,<br />
bis mir die Puste ausgeht. Den ganzen Abend sieht<br />
er sich immer wieder seine Handfläche an und grinst mit<br />
einem Mundwinkel.<br />
Langsam, ganz langsam werde ich mit Tim warm. Ich bin immer<br />
noch sehr vorsichtig, vor allem, wenn es um die Sprache<br />
geht. Es ist so wundersam, wie jeder Mensch seine eigene<br />
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