open poems open writing 09/10 - Crespo Foundation
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eine alte Mischpalette, die wohl aus Holz bestand, aber deren<br />
ursprüngliche Beschaffenheit unter dutzenden Farbschichten<br />
verborgen war. Sie drückte die Farben aus den Tuben, um sie<br />
mit einem Pinsel zu verrühren, bis sie eine neue Farbe ergaben,<br />
die gänzlich anders schien als die Töne, aus denen sie<br />
entstand. Allmählich entwickelte sich ein Spektrum verschiedener<br />
Farben. Sie war zuversichtlich, dass die neue<br />
Goldmischung, die sie innerhalb der letzten Wochen entwikkelt<br />
hatte, dem Heiligenschein der Kuppel gleichen und wenn<br />
nicht, ein Schritt in die richtige Richtung sein würde. Das<br />
Rot der aufgehenden Sonne war schwer zu treffen, wies es<br />
doch jeden Tag andere Schattierungen auf, je nach Wetter.<br />
Die Marmorwände waren nicht nur schlicht weiß, wie der Laie<br />
vielleicht vermutet, sondern wiesen eine Vielzahl an Nuancen<br />
auf. Während am Fuße des Domes ein fast bräunliches Elfenbein<br />
herrschte, verlief sich dieses nach oben hin. Es wurde<br />
mehr und mehr mit Weiß verdünnt, aus Elfenbein wurde klares<br />
Weiß, und an den oberen Kanten, dort, wo die Wände und Türme<br />
dem Himmel am nächsten waren, schien der Marmor fast transparent.<br />
Als die Sonne nun langsam stieg und den Platz in ein<br />
diesiges gräuliches Rot hüllte, tauchte sie den Pinsel<br />
zuerst in den elfenbeinernen Ton. Sie hatte die Tage zuvor<br />
versucht, mit dem weißlichen Teil in der Mitte des Rumpfes<br />
zu beginnen und war damit nicht recht vorangekommen. Als die<br />
Sonne hinter dem Dom verschwand und der goldene Strahlenkranz<br />
um die Kuppel erbebte, begann sie zu malen. Der Pinsel<br />
huschte über die lächerliche Leinwand, setzte hier einen<br />
Tupfer Gold, zog da eine kurze Linie Mattweiß und wirklich,<br />
es schien, als würde sich aus diesen so wahllos verstreut<br />
anmutenden Akzenten das Bild herausarbeiten, das der Dom ihr<br />
bot. Doch die Sonne tauchte bereits über der Kuppel auf,<br />
schob sich träge über deren Rand, als würde sie an ihr haften<br />
und erstrahlte hell und kalt am Morgenhimmel. Große<br />
Teile der Kuppel fehlten, die Wände waren durchbrochen von<br />
nackten Stellen und der Sockel wies einen kleinen Fehler am<br />
unteren rechten Rand auf, weil ihr der Pinsel wegen einer<br />
unsauberen Handbewegung minimal weggerutscht war. Der<br />
Strahlenkranz aber war vollendet dargestellt. So wie sich<br />
ein Schmetterlingssammler über ein seltenes Exemplar freut,<br />
so freute sie sich über diesen Fortschritt. Ihr war es gelungen,<br />
zumindest ein Fragment des Moments festzuhalten. Der<br />
Strahlenkranz schien wie ein Nachtfalter aus mystischen<br />
Gegenden mit gefährlich und exotisch klingenden Namen, beide<br />
Teil eines größeren Ganzen und beide in ihrer bruchstück-<br />
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