COMPACT-Magazin 02-2017
Jung, wild, patriotisch
Jung, wild, patriotisch
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<strong>COMPACT</strong> Dossier<br />
50<br />
Erdogan hat Aleppo<br />
an Putin verkauft<br />
Murat Karayilan, Kommandeur<br />
der kurdischen Untergrundarmee<br />
PKK, beschreibt die Rolle der<br />
Türkei in Syrien aus seiner Sicht:<br />
«Am Anfang hatte sie noch das<br />
Ziel, Assad in Syrien zu stürzen<br />
und mögliche Errungenschaften<br />
der Kurden in einem neuen<br />
Syrien zu unterbinden. Nun hat<br />
sie das erste Ziel aufgegeben<br />
und konzentriert sich alleine<br />
auf die antikurdische Politik in<br />
Syrien. Allein aus diesem Grund<br />
hat sie Gruppen wie die al-Nusra<br />
unterstützt und auch deren Basis<br />
in Aleppo stark gemacht. Das<br />
Ziel war es, mit Hilfe dieser<br />
Gruppen das Erstarken der Kurden<br />
in Rojava [Syrisch-Kurdistan]<br />
zu unterbinden. Anschließend<br />
hat die Türkei (…) sich mit<br />
Russland darüber geeinigt, dass<br />
die Kantone Afrin und Kobane<br />
[kurdisch kontrollierte Gebiete<br />
im Norden Syriens an der Grenze<br />
zur Türkei] nicht miteinander verbunden<br />
werden. Die Türkei hat<br />
also Aleppo verkauft und im<br />
Gegenzug dafür al-Bab [bisher<br />
vom IS gehaltene Stadt in Nordsyrien]<br />
verlangt. In dessen Folge<br />
wurden die Gruppen in Aleppo<br />
fallengelassen, die zuvor noch<br />
von der Türkei als ihre ”Brüder”<br />
bezeichnet worden waren.»<br />
(civaka-azad.org, 19.12.2016)<br />
Bild oben: Panzer-Wrack in Aleppo.<br />
Bild rechts: Vanessa Beeley.<br />
Fotos: Vanessa Beeley<br />
_ Vanessa Beeley ist eine britische<br />
investigative Fotojournalistin und<br />
stellvertretende Direktorin der<br />
Internetseite «21centurywire.<br />
com». Während des israelischen<br />
Bombardements im Jahr 2012<br />
lebte sie in Gaza. Im März 2016<br />
repräsentierte sie Jemen bei<br />
den Vereinten Nationen. Dort<br />
bezeugte sie den Einsatz von US-<br />
Streubomben gegen zivile Ziele<br />
durch die saudische Luftwaffe und<br />
deren Verbündete.<br />
gegeben. Er sagte, man fand Kinder mit ausgestochenen<br />
Augen und hingerichtete Frauen und Männer.<br />
Wie man am Todeszeitpunkt erkennt, können<br />
die Regierungstruppen dafür nicht verantwortlich<br />
gewesen sein. Die einzigen Berichte über getötete<br />
Zivilisten, die ich hörte, kamen von Einwohnern,<br />
die erzählten, wie Terroristen auf Menschen schossen,<br />
die über die humanitären Korridore entkommen<br />
wollten, welche Russland und die syrische Regierung<br />
eingerichtet hatten. Man sagte uns, dass sie<br />
auf Kinder und alte Menschen feuerten. Eine Frau<br />
sah, wie eine andere Frau auf Knien sitzend um etwas<br />
zu essen bat. Die Terroristen schossen ihr in den<br />
Mund. Auf ihrer Flucht hinterließen sie Sprengfallen.<br />
Als wir aus einem Krankenhaus kamen, explodierte<br />
uns gegenüber ein Haus. Das war eine dieser<br />
Sprengvorrichtungen.<br />
«In Aleppo feierten Muslime aller<br />
Glaubensrichtungen mit Christen<br />
das Weihnachtsfest.»<br />
Hatte es denn früher Unterstützung für die sogenannten<br />
Rebellen gegeben?<br />
Nein, die gab es so gut wie nicht, und in Syrien<br />
gibt es niemanden, der sie «Rebellen» nennt. Selbst<br />
Syrer, die Reformen wollen, sagten uns, sie wollten<br />
das Land verbessern, nicht zerstören. Die Unterstützung<br />
für bewaffnete Aufstände ist praktisch<br />
gleich null. Es ist für mich herzzerreißend, dass diese<br />
Menschen in Ost-Aleppo viereinhalb Jahre lang<br />
Hinrichtungen, Inhaftierungen, Vergewaltigungen,<br />
Folter und Beschimpfungen zu erdulden hatten. Ihnen<br />
wurde immer wieder befohlen: Keinerlei Bildung<br />
außer der von extremistischen Imamen in den<br />
Moscheen! Sämtliche Schulen wurden in Waffenlager<br />
oder Schariagerichte umgewandelt. Doch trotz<br />
aller Verzweiflung und allen Leids gibt es auch eine<br />
unglaubliche Renaissance der Tatkraft und des Mutes.<br />
Der Direktor einer Schule in Hanano, die zu den<br />
weniger beschädigten gehörte, erzählte uns, die<br />
Kinder würden in 24 Stunden wieder im Unterricht<br />
sitzen. Alle Syrer glauben, dass Bildung die beste<br />
Waffe gegen die extremistische Ideologie ist, die<br />
ihr Land infiltriert hat.<br />
US-Verteidigungsminister Ashton Carter behauptete<br />
kürzlich, die Russen hätten im Kampf<br />
gegen den IS nichts beigetragen.<br />
Unfassbar. Wie wäre es damit: Als Aleppo kurz vor<br />
der vollständigen Befreiung stand, wurde plötzlich<br />
wieder der IS in Palmyra aktiv. In Syrien hält das jeder<br />
für eine von der US-Koalition gewollte Ablenkung,<br />
die die SAA zerstreuen sollte. Als Regierungstruppen<br />
Deir ez-Zor verteidigten, wurden sie über<br />
eine Stunde lang von der US-Luftwaffe bombardiert.<br />
Später behauptete Washington, es sei ein Fehler<br />
gewesen. Einen Fehler hält man jedoch nicht eine<br />
Stunde lang aufrecht… Die Aufzeichnungen und<br />
Aussagen über das Geschehen machen klar, dass<br />
die Amerikaner damit dem IS Luftunterstützung gaben.<br />
Die Russen hingegen unterbrachen erfolgreich<br />
die Öllieferungen des IS, welche die USA nicht angetastet<br />
hatten. In Ost-Aleppo säuberten sie tausende<br />
Hektar Land von Sprengsätzen und Chemiewaffen.<br />
In Dschibrin sah ich die russischen Feldlazarette,<br />
in denen täglich 150 Menschen behandelt wurden.<br />
Die hatten seit viereinhalb Jahren keine Versorgung<br />
erhalten. Während der Besatzung gab es keine medizinische<br />
Behandlung für Zivilisten.<br />
Sie waren auch über Weihnachten in Aleppo.<br />
Das war etwas ganz Besonderes. Denken Sie an religiöse<br />
Sektiererei in Ländern wie Saudi-Arabien oder<br />
nun auch der Türkei, wo es verboten ist, Weihnachten<br />
zu feiern – hier schien das keine Rolle zu spielen.<br />
In Aleppo befanden sich Menschen aus allen muslimischen<br />
Glaubensrichtungen auf den Straßen, um<br />
mit der christlichen Minderheit zu feiern. Diese Einheit<br />
ist ein Beispiel dafür, warum Syrien der Intervention<br />
seit sechs Jahren standhält. In erster Linie<br />
verstehen sich alle als Syrer. Ihre Religion ist ihrer<br />
Nationalität, ihrer Heimat untergeordnet.<br />
Warum sind hunderttausende junge syrische<br />
Männer nach Europa gekommen?<br />
Die Mehrheit der Vertrieben ist ja in Syrien geblieben.<br />
Mehr als sechs Millionen Menschen haben<br />
Schutz in den von der Regierung gehaltenen Gebieten<br />
gesucht. Das ist ein wichtiger Punkt. Ebendiese<br />
Menschen haben das Gefühl, dass die Auswanderer<br />
nach Europa Wirtschaftsmigranten sind. Vor al-Assad<br />
fliehen sie nicht. Sie fliehen, weil die Wirtschaft<br />
des Landes durch die Sanktionen der USA und der<br />
EU seit sechs Jahren gelähmt wird. Allerdings gibt<br />
es auch Extremisten und Militante im Flüchtlingsstrom.<br />
Das kann man nicht ignorieren.<br />
Vielen Dank für das Gespräch.