COMPACT-Magazin 02-2017
Jung, wild, patriotisch
Jung, wild, patriotisch
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<strong>COMPACT</strong> Leben<br />
Reise nach Anabar<br />
Jurijung-Chaja<br />
Saskylach<br />
Olenjok<br />
Udatschny<br />
Mirny<br />
Werchnemarkowo<br />
Bratsk<br />
4.000 km<br />
Irkutsk<br />
56<br />
Erschienen 2014 im Plassen Verlag.<br />
Foto: Plassen Verlag<br />
Kolja Spöri (* 1969) ist Weltenbummler,<br />
Abenteurer und<br />
Buchautor. Zunächst Sponsoring-<br />
Manager von Hugo Boss,<br />
arbeitet er 20 Jahre lang als<br />
Formel-1-Experte und beteiligte<br />
sich unter anderem am TV- und<br />
Pressezentrum des Fürstenhauses<br />
von Monaco. Spöri ist Dozent der<br />
Fakultät des IOC an der Universität<br />
Lausanne, Präsident des<br />
Extremreisen-Kongresses ETIC<br />
und Autor des Reisebestsellers<br />
«Ich war überall: Tschetschenien,<br />
Afghanistan, Südsudan–Mit einem<br />
Gentleman an die entlegensten<br />
und gefährlichsten Orte der Welt»,<br />
erschienen 2014 im Plassen<br />
Verlag (320 Seiten, 19,99 Euro)<br />
Diamantschürfer, die mit Spitzhacke und Schaufel in<br />
einer Flussbiegung nach glitzernden Steinen suchen.<br />
Ein anderes Mal entzückt uns ein süßer kleiner Zobel<br />
am Wegesrand. Dieses Tier trägt die Hauptschuld<br />
für die frühe Besiedlung Sibiriens, obwohl ihm immer<br />
nur das Fell über die Ohren gezogen wurde.<br />
Die kälteste Sackgasse der Welt<br />
Wir fressen ordentlich Kilometer, über 600, und<br />
erreichen spätabends die Distrikthauptstadt Saskylach<br />
mit ihren 2.300 Einwohnern. Benzin ist hier<br />
streng rationiert, weil die Versorgung so beschwerlich<br />
ist. Der kompetente Gouverneur Ewgeny lässt<br />
uns dennoch alle Kanister bis zum Anschlag befüllen.<br />
Zwei freundliche Uniformträger vom russischen<br />
Inlandsgeheimdienst FSB prüfen unsere Sondergenehmigung,<br />
den sogenannten Propusk, den wir für<br />
das arktische Grenzgebiet zwingend im Voraus beantragen<br />
mussten, und Slawa, der Mechaniker, flickt<br />
kleine Macken an unserer russischen Rennsemmel.<br />
Alle versichern uns, dass wir die ersten Ausländer<br />
seien, die mit einem normalen Auto bis hier hoch<br />
gefahren sind.<br />
Die extreme Kälte killt die Batterien<br />
unserer Kameras.<br />
Oft kerzengerade Straßen: Über 4.000 Kilometer führt der<br />
Weg vom Baikalsee bis ans Nordmeer.<br />
Foto: Mikhail Rybochkin<br />
Unsere bescheidene Herberge hat kein fließend<br />
Wasser, nur riesige Eiswürfel aus dem Fluss, die im<br />
Wohnzimmer in Fässern aufgetaut werden. Selbst<br />
der Fisch wird hier gefroren in kleine Streifen gehobelt,<br />
das nennt sich Muksul – und schmeckt wunderbar!<br />
Nach einem guten Frühstück nehmen wir die<br />
letzte Etappe nach Norden auf uns, knapp 250 Kilometer<br />
bis zum Laptew Meer, dem arktischen Ozean,<br />
der um diese Jahreszeit natürlich bis zum Nordpol<br />
gefroren ist. Entlang des Anabar wechselt die Landschaft<br />
nun schlagartig von leicht bewaldeter Taiga<br />
über baumlose Tundra in eine unwirtliche polare<br />
Traumwelt. Unter unseren Reifen knarzt pures Eis.<br />
Am Ende der Straße erreichen wir Yuryung-Khaya,<br />
wo knapp 1.000 Dolganen, eine turksprachige Minderheit,<br />
von der Rentierzucht leben. Beim Blick auf<br />
die GPS-Daten liegen wir uns in den Armen, knipsen<br />
Beweisfotos, dann killt die brutale Kälte die Batterien<br />
unserer Kameras.<br />
Als nächstes fahren wir uns so unglücklich im getauten<br />
Schnee fest, dass wir stundenlang auf Hilfe<br />
warten müssen. Auf der offenen Ladefläche des zur<br />
Rettung geeilten Abschleppwagens sind hunderte<br />
gefrorene Rentierkeulen gestapelt, fertig zum Export.<br />
Ein surreales Bild. Mehrere Bergegurte und Geduldsfäden<br />
reißen, bis der Lada endlich wieder frei<br />
ist. Inzwischen ist die Nacht hereingebrochen, die<br />
geplante Rückfahrt nach Saskylach ausgeschlossen,<br />
und kein Anwohner will uns Fremde in sein warmes<br />
Haus lassen. Bei minus 45 Grad zeigt man uns buchstäblich<br />
die kalte Schulter. Wir müssen auf die späte<br />
Rückkehr des Bürgermeisters vom Eisangeln warten,<br />
einem freundlichen Kasachen, der uns im leicht verlotterten<br />
Lagerraum des Postamtes nächtigen lässt.<br />
Früh am nächsten Morgen beginnt unsere lange, lange<br />
Heimreise: noch einmal 4.000 Kilometer zurück<br />
aus der einsamsten, der nördlichsten, der kältesten<br />
Sackgasse der Welt. Dann acht Zeitzonen per Flugzeug,<br />
immer nach Westen, im Rücken ein Land aus<br />
Eis und Feuer, das lebt und sich selbst genügt.