Dauner-Lieb - Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Wirtschaftsrecht und ...
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Immaterieller Schaden § 253<br />
einer solchen neuen Kategorie sind. 419 So manches Abgrenzungsproblem, ob eine ausreichende pathologische<br />
Schwelle von erheblicher Dauer überschritten worden ist, würde dadurch freilich erheblich entschärft. 420 Das<br />
gegen die Einführung vorgebrachte Argument der – unlösbaren – Bemessungsprobleme 421 stellt sich bei allen<br />
seelischen Beschwerden; außerdem ist zu konstatieren, dass alle anderen europäischen <strong>Recht</strong>sordnungen das<br />
bewältigen. Mitunter ist die Vererbung des Schmerzensgeldes des schlussendlich Verstorbenen eine Krücke.<br />
422 Das führt nicht nur zu einem Erbsenzählen in Bezug auf die Dauer des Überlebens, 423 vor allem aber<br />
dann zu keinem Ersatz, wenn der Tod sogleich eintritt oder der Nachlass überschuldet ist. Zudem ist ein anderer<br />
Personenkreis begünstigt: Nicht jeder trauernde Familienangehörige ist Erbe; Erbe ist aber auch der, der gar<br />
nicht trauert, in letzter Konsequenz der Fiskus. Da der Gesetzgeber nicht eingreift, gibt es Bemühungen, den<br />
BGH schon de lege lata – nach dem Vorbild des österreichischen OGH 424 – zu einer (mutigen) <strong>Recht</strong>sfortbildung<br />
zu bewegen. Als Argumente werden genannt der gr<strong>und</strong>rechtliche Schutz des allgemeinen Persönlichkeitsrechts<br />
<strong>und</strong> der Familie 425 sowie die Genugtuungsfunktion. 426 Aus Wertungsgesichtspunkten ist es in<br />
der Tat bestürzend, dass die Entbehrung eines Fahrzeugs vom ersten Tag an zu einem Ersatzanspruch führt,<br />
während die kaputte Lebensqualität, weil ein Familienmitglied aus dem Leben gerissen worden ist, entschädigungslos<br />
bleibt. 427 Vorzugswürdig wäre mE eine Anknüpfung an das Ausgleichsprinzip; durch die Bezugnahme<br />
auf das in seiner Bedeutung abnehmenden Genugtuungsprinzip 428 würden nämlich neue Wertungswidersprüche<br />
in die Qualifikation des Schmerzensgeldes hineingetragen. Wenn nahezu unüberwindliche Bemessungsschwierigkeiten<br />
ins Treffen geführt werden, sei darauf verwiesen, dass mit der Zubilligung eines<br />
Mindestersatzes, also eines Betrages, der den Angehörigen in die Lage versetzt, durch das Unternehmen einer<br />
größeren Reise auf andere Gedanken zu kommen, das Kompensationsziel zwar nicht einzelfallgenau erfasst,<br />
aber immer noch angemessener bewältigt wird als unter Hinweis auf Bemessungsprobleme jeglichen Ersatz<br />
zu versagen. Für den Gerechtigkeitsgehalt eines solchen Angehörigenschmerzensgeldes würde jedenfalls<br />
sprechen, dass sich Angehörige der „Oberschicht“ in seelische Wellnesseinrichtungen begeben <strong>und</strong> ihren<br />
Schmerz – auf Kosten des Schädigers – zelebrieren, während Angehörige der „Unterschicht“ allein damit<br />
beschäftigt sind, wie das Leben weitergeht. Dass die seelische Beeinträchtigung da bzw dort unterschiedlich<br />
ist, ist kaum anzunehmen. Durch eine bloße Lockerung der Anspruchsvoraussetzungen beim Schockschaden<br />
429 dürfte diese – sachwidrige – Differenzierung kaum zu beseitigen sein.<br />
G.<br />
Bemessungsdeterminanten<br />
Stellung des Sachverständigen<br />
Gerade beim Schmerzensgeldbegehren kommt dem Sachverständigengutachten zentrale Bedeutung zu. Legt<br />
der Geschädigte ein davon abweichendes Privatgutachten vor, kann sich das Tatgericht nicht mit dem Hinweis<br />
begnügen, dass es dem Gerichtsgutachten folge. Vielmehr muss der Gerichtsgutachter die Argumente des<br />
Privatgutachtens entkräften oder das Gericht muss ein weiteres Gutachten einholen. 430<br />
I.<br />
Besonders freie Stellung des Tatrichters gem. § 287 ZPO<br />
Gerade <strong>für</strong> die Festsetzung der Höhe des Schmerzensgeldes gilt, dass der Tatrichter, insbesondere in 1.<br />
Instanz, 431 ein besonders weit reichendes Ermessen im Rahmen des § 287 ZPO hat. 432 Es gibt nicht die an sich<br />
angemessene Entschädigung <strong>für</strong> immaterielle Schäden. Eine Beanstandung durch die <strong>Recht</strong>smittelinstanz<br />
findet nicht schon dann statt, wenn das Schmerzensgeld zu dürftig oder zu reichlich bemessen worden ist, 433<br />
II.<br />
73<br />
sondern wenn der Ermessensrahmen überschritten worden ist, im Klartext der Tatrichter weit daneben gegrif-<br />
419 A. Diederichsen, DAR 2011, 122 ff; G. Müller, DRiZ<br />
2003, 167, 168; G. Müller, VersR 2003, 1, 4 f; Steffen,<br />
in: FS Odersky (1996) S. 723, 730 f; Steffen, in: FS 25jähriges<br />
Bestehen Arbeitsgemeinschaft Verkehrsrecht<br />
des Deutschen Anwaltvereins (2005) S. 145, 150, 155;<br />
Dressler, DAR 1996, 81.<br />
420 Bamberger/Roth/Spindler, § 253 Rn 12; Klinger, NZV<br />
2005, 290.<br />
421 Adelmann, VersR 2009, 449, 454; A. Diederichsen,<br />
DAR 2011, 122, 124.<br />
422 Klinger, NZV 2005, 290.<br />
423 Prototypisch OLG Frankfurt/M. NJOZ 2009, 4715: Für<br />
2 St<strong>und</strong>en Überleben 6.000 EUR.<br />
424 OGH NZV 2002, 26.<br />
425 Klinger, NZV 2005, 290 ff; aA Adelmann, VersR 2009,<br />
449, 451.<br />
426 V. Jeinsen, zfs 2008, 61.<br />
427 Auf diesen Wertungswiderspruch zu <strong>Recht</strong> hinweisend<br />
Jaeger, VRR 2005, 10; Klinger, NZV 2005, 290, 292;<br />
Luckey, SVR 2008, 22.<br />
428 So aber A. Diederichsen, DAR 2011, 122, 124.<br />
429 So das Plädoyer von A. Diederichsen, DAR 2011, 122,<br />
124.<br />
430 BGH NJW-Spezial 2009, 441.<br />
431 Wussow/Kürschner, Kap. 54 Rn 35.<br />
432 BGH NJW 1991, 1544; NJW 1976, 1147; van Bühren/<br />
Jahnke, Teil 4 Rn 256.<br />
433 Jaeger/Luckey, Rn 529.<br />
Huber 193<br />
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