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ein mythos des terrors

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Dynastie zählte ausschließlich die Loyalität innerhalb<br />

<strong>ein</strong>es Reichsverban<strong>des</strong>, und niemals <strong>ein</strong>e Bluts- oder<br />

Stammeszugehörigkeit. Obwohl die Türkei - gezwungenermaßen,<br />

und absolut nicht freiwillig! - nun auf dem<br />

Wege zu <strong>ein</strong>em modernen „Nationalstaat” dahinschritt,<br />

weigerten sich die türkischen Vertreter in Lausanne, ihre<br />

nun gewonnene „nationale Integrität” durch zusätzliche<br />

Nationalismen gefährden zu lassen. Folgerichtig kommt<br />

das Wort „Armenier” im Vertrag von Lausanne nicht <strong>ein</strong>mal<br />

andeutungsweise vor.<br />

Als Lord Curzon, offensichtlich in der M<strong>ein</strong>ung, <strong>ein</strong>e<br />

Pflichtübung absolvieren zu müssen, auf die Armenier zu<br />

sprechen kam, obwohl sie ihn nicht mehr interessierten<br />

(sie hatten ihre Schuldigkeit als nützliche Idioten der Entente<br />

längst getan) fuhr ihm Ismet Inönü über den Mund:<br />

„Es ist jetzt an der Zeit, zu betonen, daß auf dem Boden<br />

<strong>des</strong> Osmanischen Reiches, heute auf s<strong>ein</strong>e r<strong>ein</strong> türkischen<br />

Lan<strong>des</strong>teile zusammengeschmolzen, k<strong>ein</strong>erlei Minderheit<br />

lebt, die <strong>ein</strong>en eigenen Staat beanspruchen könnte.<br />

Obwohl der Grundsatz der Nationalität nicht überall gleichermaßen<br />

angewendet werden kann, ersch<strong>ein</strong>t mir die<br />

Tatsache, daß mancher unserer Nationalitäten Unabhängigkeit<br />

anstrebten und den osmanischen Reichsverband<br />

verlassen wollten, bis zu <strong>ein</strong>em gewissen Maße gerechtfertigt.<br />

Aber heute ist die Lage völlig anders. (Die Türkei<br />

war ja bereits auf den Rang <strong>ein</strong>es r<strong>ein</strong>en Nationalstaates<br />

zusammengestutzt worden!).<br />

So wie es völlig undenkbar wäre, daß die Griechen, die<br />

zum Beispiel in Marseille wohnen, dort <strong>ein</strong>en unabhängigen<br />

Staat bilden könnten oder Marseille ihrem griechischen<br />

Mutterland <strong>ein</strong>verleiben könnten, ist es auch<br />

ausgeschlossen, daß Griechen oder Armenier der Türkei<br />

solche Rechte beanspruchen!”<br />

Als der griechische Ministerpräsident Venizelos, der<br />

durch die Invasion griechischer Truppen in Anatolien und<br />

das nachfolgende Debakel dieses Angriffskrieges <strong>ein</strong>e<br />

gewaltige Blutschuld auf sich geladen hatte (er mußte ja<br />

das ganze Flüchtlingselend verantworten!) in s<strong>ein</strong>er Rede<br />

kurz auch die armenische Problematik streifen zu müssen<br />

glaubte, fiel ihm Ismet Inönü ins Wort:<br />

„Mir sch<strong>ein</strong>t, Herr Venizelos hat vergessen, darüber <strong>ein</strong>e<br />

Bemerkung zu machen, welch <strong>ein</strong>e Quelle <strong>des</strong> Unglücks<br />

die Besetzung Kl<strong>ein</strong>asiens durch die griechische Invasionsarmee<br />

auch für die Armenier gewesen ist. Diese<br />

bedauernswerten Menschen waren gezwungen, in die<br />

griechische Armee <strong>ein</strong>zutreten (. . .) und wurden an die<br />

Front geschickt, um auf die Türken zu schießen. Nach der<br />

griechischen Niederlage gab es dann diese verheerenden<br />

Brände und Zerstörungen. Anderseits haben die Griechen<br />

versucht, die Untaten, die während jener griechischen<br />

Besatzungszeit geschahen, nachher den Armeniern in die<br />

Schuhe zu schieben. Schließlich, als sich die Griechen<br />

geschlagen aus Kl<strong>ein</strong>asien zurückziehen mußten, rissen<br />

sie die Armenier mit sich. Die griechische Regierung ist<br />

wohl die letzte, die sich für die Armenier verwenden darf,<br />

weil sie direkt in alles verwickelt ist, was den Armeniern<br />

an Schlimmem widerfuhr . . .”<br />

116<br />

Als Lord Curzon am 13. Dezember von „drei Millionen<br />

Armeniern” zu faseln begann, „die es <strong>ein</strong>stmals in Kl<strong>ein</strong>asien<br />

gegeben habe” antwortete ihm Inönü, daß es im<br />

gesamten Laufe der Weltgeschichte k<strong>ein</strong>en<br />

Bevölkerungsstand von drei Millionen Armeniern in<br />

Anatolien gehabt habe (tatsächlich lebten vor dem<br />

Ausbruch <strong>des</strong> Ersten Weltkrieges dort 1,5 Millionen<br />

Armenier). Bitter bemerkte Inönü, daß man die Armenier<br />

Kilikiens erst jüngst gezwungen habe - und zwar von<br />

seifen ihrer eigenen Revolutionskomitees - ihre Heimat<br />

gem<strong>ein</strong>sam mit den abrückenden Franzosen in Richtung<br />

Syrien wieder zu verlassen. Der Hintergedanke bei<br />

solchen forcierten Abwanderungen war, daß die türkische<br />

Wirtschaft völlig zusammenbrechen würde, verfügte sich<br />

nicht über die armenische Infrastruktur und die<br />

Außenhandelserfahrung der Armenier - <strong>ein</strong> Gedanke, der<br />

sehr bald durch die Tatsachen widerlegt wurde.<br />

Als am 6. Jänner 1924 noch <strong>ein</strong>mal die Rede auf die<br />

Armenier kam, erklärte Inönü: „Es sind ausschließlich<br />

die Alliierten, die Schuld gegenüber den Armeniern<br />

haben. Es sind die Alliierten, die die Armenier gegen die<br />

Türken aufhetzten und sie als Werkzeug ihrer Politik<br />

mißbrauchten . . . es sind die Alliierten, die die Armenier<br />

dem Hunger, den Epidemien und schließlich dem Exodus<br />

überantworteten. Uns trifft dafür k<strong>ein</strong>e Schuld, sondern<br />

ausschließlich die Mächte der Entente. Wenn die<br />

Armenier <strong>ein</strong>e Kompensation für all das verdienen, was<br />

sie erlitten haben, dann gebt sie ihnen!”<br />

Nach diesem dramatischen Konferenztag kam die Problematik<br />

der bedauernswerten Armenier, die sich von den<br />

Versprechungen der Entente hatten hinreißen lassen,<br />

nicht mehr zur Sprache.<br />

Da das Wort „Armenien” oder „Armenier” im Vertragstext<br />

von Lausanne nicht vorkommt, war auch endlich der<br />

diabolische Vorwand, den die Russen durch Einfügung<br />

<strong>ein</strong>er armenischen Klausel in San Stefano und in Berlin<br />

(1878) geschaffen hatten, aus der Welt geschafft, zum<br />

Nutzen jener Armenier, die in der Türkei verblieben und<br />

dort als Bürger wie jeder andere Mensch der türkischen<br />

Gem<strong>ein</strong>schaft leben, unter den gleichen Gesetzen, mit<br />

gleichen Rechten und Pflichten wie alle.<br />

Am 24. Juli 1923 unterzeichneten die Mächte den Vertrag<br />

von Lausanne. Die armenische Delegation hatte schon<br />

am 2. Februar, als sie die Aussichtslosigkeit ihrer<br />

Bemühungen und die Hilflosigkeit ihrer „Verbündeten”<br />

erkannte, Lausanne verlassen.<br />

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, daß die Sowjetrussen,<br />

die Russisch-Armenien am 29. November 1920<br />

durch die Gründung der „Armenischen Sozialistischen<br />

Sowjetrepublik” wieder völlig in der Hand hatten, durch<br />

ihren Außenminister Tschitscherin von <strong>ein</strong>em neuen<br />

„nationalen Foyer für die Armenier” an der Wolga oder in<br />

Sibirien redeten. In den dreißiger Jahren machte dann<br />

Stalin diesen Zynismus zur schrecklichen Wirklichkeit,<br />

als er begann, die Armenier in großem Umfange ausgerechnet<br />

in das Altai-Gebiet (die Urheimat der Türken)<br />

umzusiedeln.

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