Probekapitel [.pdf - ca. 5233 kb] - Minerva KG Gude
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15.2<br />
Diaphysärer Unterarm<br />
A.-M. Weinberg, H. Reilmann<br />
Ursache und Häufigkeit<br />
Frakturen im Bereich des Unterarmschaftes zählen mit<br />
25% zu den häufigsten Extremitätenfrakturen im Kindesalter<br />
(Jonsson et al. 1999). Sie zeigen durch neue<br />
Rasanzsportarten wie Inline-Skating, Rollerblade- und<br />
Snowboard-Fahren eine Zunahme in den letzten Jahren<br />
(Heller et al. 1996; Powell u. Tanz 1996). Im proximalen<br />
Drittel sind sie mit 3–7% selten, im mittleren Drittel mit<br />
15–20% häufiger und im distalen Drittel mit 50–80% am<br />
häufigsten vertreten; die distalen metaphysären Frakturen<br />
sind in dieser Angabe enthalten (v. Laer 1986).<br />
Als Unfallmechanismus sind meist Stürze auf die<br />
ausgestreckte Hand bei Sport und Spiel zu beobachten<br />
(Johannsen et al. 1997). Nur selten spielt direkte Gewalteinwirkung<br />
eine Rolle. Am bekanntesten dafür ist die<br />
Parierfraktur, bei der es zu einer isolierten Fraktur der<br />
Ulna – meist im Bereich der Schaftmitte – kommt.<br />
Entwicklung und Wachstum<br />
Wachstumsprognose<br />
Stimulative Wachstumstörungen nach Frakturen des<br />
Unterarmschaftes sind theoretisch möglich und äußern<br />
sich in Form eines passageren Mehrwachstums (Shaer et<br />
al. 1999).<br />
Insbesondere nach wiederholten Repositionen kann<br />
es beim Radius zu einer Verlängerung gegenüber der<br />
Ulna kommen (de Pablos et al. 1994). Uneinigkeit besteht,<br />
inwiefern dieses Phänomen mehr nach proximalen<br />
oder aber nach distalen Frakturen zu beobachten ist<br />
(Carsi et al. 2003). Spontankorrekturen derartiger Längenalterationen<br />
scheinen möglich zu sein, dies ist aber<br />
nur gegenüber dem Partnerknochen zu beobachten.<br />
Hemmende Wachstumsstörungen sind in der Literatur<br />
nur nach distalen Frakturen – vor allem nach metaphysären<br />
Läsionen – beschrieben und daher für den<br />
diaphysären Schaft vernachlässigbar.<br />
Möglichkeiten und Grenzen der Spontankorrektur<br />
Die Spontankorrektur an der Diaphyse wird in der Literatur<br />
kontrovers beurteilt. Dies hängt damit zusammen,<br />
dass die Funktion (Pro-/Supination) bereits bei geringen<br />
Achsenfehlstellungen Einschränkungen der Umwendbewegung<br />
verursachen kann und somit eine mögliche<br />
Spontankorrektur die Funktion nicht wieder herstellt.<br />
Dezidierte Studien diesbezüglich fehlen.<br />
In der Literatur wird im Allgemeinen bei Kindern bis<br />
zum 10. Lebensjahr ein Achsenfehler von bis zu 10° akzeptiert,<br />
manche Autoren sprechen sogar von 20–30° im<br />
Schaftbereich. Dies wird mit dem hohen Potenzial einer<br />
spontanen Korrektur solcher Fehlstellungen begründet<br />
(Beyer et al. 1995; Daruwalla 1979; Fuller u. McCullough<br />
1982; Johar u. Sinha 1999). Ab dem 10. Lebensjahr sind<br />
15.2 Diaphysärer Unterarm 345<br />
Achsenfehler über 10° in Schaftmitte zu vermeiden<br />
(Holdsworth u. Sloan 1982; Matthews et al. 1982; Tarr et<br />
al. 1984). Volat (Volat u. De Boeck 2003) geht sogar davon<br />
aus, dass das Korrekturpotenzial ab einem Alter<br />
von fünf Jahren für Frakturen >10° nicht mehr ausreichend<br />
ist. Bei diesen Angaben handelt es sich zumeist<br />
um Frakturen, die den interossären Raum einengen; diese<br />
korrigieren sich nicht. Das Problem bei dieser Achsabweichung<br />
ist die immer damit einhergehende funktionelle<br />
Einschränkung.<br />
Größere Deformitäten – dorsale Abweichungen des<br />
Radius >20° – bedingen neben möglichen funktionellen<br />
Defiziten auch kosmetisch inakzeptable Ergebnisse<br />
(Forgon u. Mammel 1983; Matthews et al. 1982; Sanders<br />
u. Heckman 1984; Younger et al. 1997).<br />
Daher hat sich in den letzten Jahren die Meinung<br />
durchgesetzt, dass sich Achsabweichungen >10° in der<br />
Diaphyse nicht ausreichend korrigieren. Handelt es sich<br />
um Einengungen des interossären Raums, so können<br />
auch geringere Achsenfehlstellungen die Funktion beeinträchtigen<br />
(vgl. Abb. 15.2).<br />
Für einen Rotationsfehler lassen sich keine Angaben<br />
bezüglich der möglichen Spontankorrektur machen. Es<br />
wird immer wieder postuliert, dass dieser vermieden<br />
werden muss, wobei es eine Diskrepanz zwischen Forderung<br />
und klinischem Nachweis eines Rotationsfehler<br />
gibt. Der isolierte Rotationsfehler am Unterarm ist erst<br />
ab einer Größe über 30° radiologisch sicher zu erkennen.<br />
Die hohe Akzeptanz der intramedullären Nagelung<br />
zeigt, dass ein geringer Rotationsfehler klinisch keine<br />
Einschränkungen verursacht bzw. Derotationsvorgänge<br />
im Sinne der Spontankorrektur möglicherweise vorkommen<br />
können. Gezielte Studien fehlen in der Literatur.<br />
Diagnostik<br />
Die radiologische Diagnostik in 2 Ebenen ist obligatorisch.<br />
Dabei muss der ganze Unterarm inklusive der Gelenke<br />
dargestellt werden, da sonst Fehlstellungen der<br />
Achse leicht übersehen werden können. Insbesondere<br />
isolierte Schaftfrakturen sind als Hinweis auf eine Monteggia-<br />
oder Galeazzi-Verletzung zu sehen und können<br />
nur sicher ausgeschlossen werden, wenn die angrenzenden<br />
Gelenke mit abgebildet werden.<br />
Bei den anschließenden radiologischen Stellungskontrollen<br />
ist darauf zu achten, dass sie in standardisierter<br />
Technik durchzuführen sind, da sonst eventuelle<br />
Fehlstellungen nicht erkannt werden.<br />
Klassifikation<br />
Man unterscheidet an der Diaphyse vollständige Frakturen<br />
von Biegungsfrakturen (Attia u. Glasstetter 1997).<br />
Die vollständigen Frakturen werden unterteilt in Quer-,<br />
Schräg- bzw. Torsions- oder Trümmerfrakturen.<br />
Die Biegungsfrakturen werden bis zum 5. Lebensjahr<br />
in die gestauchte Form, die gebogene Form und in die<br />
klassische Grünholzfraktur unterteilt (Abb. 15.43 a–d).