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TITEL<br />

Viele Kunden kommen jelzl am Abend<br />

nicht. Selbst die Windjacke braucht noch<br />

keinen neuen Goldbrand. Kann man von<br />

der »Karavelle« leben? - Überleben, ja. Sein<br />

eigener Kapitalist und Ausbeuter sein! Aber<br />

so denkt Irina Panasenko gar nicht. Ladenbesitzerin<br />

- hört sich das nicht komisch an?<br />

Zumindest für jemand, der in der Sowjetunion<br />

groß geworden ist. »Arbeitsplatz« trifft<br />

es doch viel besser: Arbeiten bis 7um Umfallen,<br />

das sei etwas, was man erst jetzt richtig<br />

genießen könne. Denn im Osten dachten ja<br />

alle, Arbeit gehöre zu den Grundbeständen<br />

(manchmal auch Grundübeln) des Lebens.<br />

Aber daß das mit der deutschen Bürokratie<br />

so schwer sein würde, habe sie nicht gedacht:<br />

»Ich kann gut mit Leuten umgehen, aber mit<br />

der deutschen Bürokratie kann ich nicht<br />

umgehen.« Die deutsche Bürokratie war<br />

auch nicht immer besonders nett zu den<br />

Panasenkos.<br />

An einem Morgen vor zwei Jahren schaute<br />

Irina Panasenko aus dem Fenster. Draußen<br />

sah es genauso aus wie immer, nur völlig<br />

anders. Genau, das Auto fehlte. »Du, Jura,<br />

da ist kein Auto mehr«, sagt Irina Panasenko<br />

zu ihrem Mann. Und verstand nicht, warum<br />

die Polizei so unfreundlich zu ihnen war. Ist<br />

man den unfreundlich zu Menschen, denen<br />

gerade ein solches Unglück widerfahren ist?<br />

Bis Irina Panasenko begriff, daß die deutsche<br />

Polizei glaubte, sie härten das Auto absichtlich<br />

klauen lassen, um die Versicherung abzukassieren.<br />

Aber sie besaßen dam<strong>als</strong> gar keine<br />

Versicherung. Zwei Wochen später war der<br />

Dieb gefunden. Ein i4Jähriger Deutscher.<br />

Und wie ist das nun mit der Russenmafia?,<br />

frage ich, weil man sich nach manchen<br />

Dingen indirekt einfach nicht erkundigen<br />

kann. Woher sie das denn wissen solle, fragt<br />

Irina Panasenko zurück. Sie kenne so ziemlich<br />

alle Russen in Berlin, die eigene Läden<br />

und Restaurants haben. Russen sei natürlich<br />

Quatsch. Bürger der ehemaligen Sowjetunion,<br />

wenigstens in dieser sehr heutigen Vergangenheitsform<br />

existiere die Sowjetunion weiter.<br />

Aber die Mafia kenne sie nicht, sagt sie. Wirklich<br />

nicht. Überhaupt werde sie immerzu<br />

nach der Mafia gefragt, ein wenig kränkend<br />

sei das schon. Man wüßte ohnehin gar nicht<br />

mehr, wer man ist. Alles ein bißchen. Nichts<br />

so richtig. »Jude» stünde zwar in ihrem Ausweis<br />

und dem ihres Mannes. Die Muller war<br />

Jüdin. Aber in der Sowjetunion durfte man<br />

nicht religiös sein und heute, im Kapitalismus,<br />

habe sie einfach keine Zeit mehr dazu.<br />

Im Flüchtlingsheim Nebra bei Halle,<br />

ihrer ersten Station in Deutschland, wurde<br />

sie Mitglied der Jüdischen Gemeinde.<br />

Aber gläubig sei sie dadurch nicht geworden.<br />

Wie wird man eigentlich gläubig?<br />

Irina Panasenko hat beschlossen sich<br />

damit abzufinden, daß sie zum Glauben<br />

einfach kein Talent hat: »Ich kann doch<br />

nicht morgens aufwachen und sagen:<br />

Ab heute bin ich religiös.« Wenn Colt<br />

gewollt halle, daß sie seine Stimme höre,<br />

hätte er bestimmt zu ihr gesprochen.<br />

Hat er aber nicht.<br />

Aber ihre Söhne gingen noch öfter zur<br />

jüdischen Gemeinde. Und außerdem werden<br />

sie wohl richtige Deutsche. In Nikolais<br />

Klasse wußte bis letzte Woche keiner,<br />

daß er kein Deutscher ist. Kam einfach<br />

keiner drauf. Bis man einen Aufsat/ über<br />

Rußland schreiben sollte, und die Lehrerin<br />

sagte, er, Nikolai, müsse davon doch<br />

Ahnung haben. Nikolai und Anton gehen<br />

beide aufs Gymnasium. Anton ist jetzt<br />

zwanzig, spricht fünf Sprachen, liest<br />

Dostojewski und Tolstoi in Origin<strong>als</strong>prache<br />

und will Journalist werden. Bei Nikolai<br />

wisse man das noch nicht so genau.<br />

Vor zwei Jahren wollte Irina Panasenko<br />

es noch einmal wissen. Sie fuhr mit<br />

den Söhnen in die Ukraine. Ob die Kinder<br />

die alte Heimat wohl wiedererkennen,<br />

wieder lieben werden? Nach einer Nacht<br />

im Wagen an der polnisch-ukrainischen<br />

Grenze ging Nikolai in die nächste Tankstelle<br />

zum Duschen. Fr fand den Waschraum<br />

nicht. Gibt's hier nicht, sagle kleinlaut<br />

die Mutter. Komische Heimat, dachte<br />

der Sohn. Aber die Kirchen von Kiew<br />

fanden sie schön. Und sie sahen noch<br />

viele Kirchen, bis nach zwei Wochen Anton<br />

meinte, es sei nun genug, und man wolle<br />

doch lieber wieder nach Hause fahren.<br />

Nach Berlin. Irina Panasenko lacht. Es<br />

klingt ein bißchen traurig. Fin bißchen.<br />

Zwei Piroggen mit Champignons!,<br />

verlangt jetzt ein vor Aktivität vibrierender<br />

Radfahrer. Gesalzene I leringe hat noch<br />

immer keiner gekauft. Die amerikanische<br />

und die Berliner Fahne gehören gar nicht<br />

der »Karavelle«, sondern dem Jeansladen<br />

nebenan.<br />

J<br />

Sicher, nach der politischen Wende hat<br />

es in den osteuropäischen Landern einen<br />

schnellen Wandel gegeben. Die Jungen reisen<br />

durch die Well und sind, <strong>als</strong> Zielmarke den<br />

westeuropäischen Standard vor Augen, auf<br />

wirtschaftlichen Erfolg aus.<br />

Was trotz aller Veränderung geblieben ist.<br />

sind beispielsweise die kleinen Bistros an<br />

den Hauptstraßen der Städte und auf den<br />

Dörfern von Prag über Budapest bis Sofia.<br />

Hier stehen die Frauen hinter der Theke und<br />

brühen den Hastigen einen Kaffee oder reichen<br />

den Schnaps. Es sind Treffpunkte für alte<br />

Menschen, die der Einsamkeit entfliehen.<br />

In ihren abgeschabten Mänteln, mit ausgebeulten<br />

Hosen und schlechten Schuhen an<br />

den Füßen, verrühren sie langsam den<br />

Zucker im Teeglas. Im Ristro ist es für sie<br />

immer noch bezahlbar, auch wenn es darin<br />

zu kalt ist, um die Jacke ausziehen zu können.<br />

Frauen in knappen Businesskostümen nehmen<br />

höchstens einen Kaffee im Stehen, um<br />

danach schnell mit kleinen Sahnetörtchen<br />

aus dem Laden zu verschwinden.<br />

Biüe<br />

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•' V, /- - -:: ."•<br />

Annette Maennel<br />

Unverändert auch die Gerüche - eine Mischung<br />

aus Ruß und abgestandenen Essensdünsten<br />

in Usti nad Labein, der muffige<br />

Geruch in den kleinen verwinkelten Gassen<br />

und die streunenden Hunde auf den Straßen<br />

von Most bis Prag. Es gibt sie immer<br />

noch, die Hochhaus-Siedlungen am Fnde<br />

der Stadt - für Randständige. Hier leben<br />

die, die am wenigsten haben. Hier läßt sich<br />

kaum einer blicken, der nicht dahin gehört<br />

oder von der Behörde geschickt wurde. Das<br />

sind die Slums - an denen sich kaum ein<br />

Einheimischer stört. Den Gegensatz dazu<br />

bieten die historischen Stadtkerne mit glan/-<br />

voller Architektur und ihrem bunten, auf<br />

Touristen ausgerichteten Treiben.<br />

Wer die Melancholie des stillen Verfalls<br />

sucht, wird genauso fündig wie der, der sich<br />

an Goldkuppeln erfreuen will. Die Bilder<br />

erzählen davon.<br />

rechts: In der tschechichen Stadt Usti nad<br />

l.ahc',m streitet sich die Tschechin Ludmila<br />

Doubkova mit der Roma Gizela Vulenova.<br />

Es geht um das Beachten der Grenzen des jeweiligen<br />

Wohngebietes. Die Tschechen wollen am<br />

liebsten nichts mit den Romas zu tun haben.<br />

2t,

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