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TITEL<br />

Wir bekamen eine Order für den Kolchos<br />

»8. März«, bekanntermaßen der ärmste im<br />

Rayon. Doch davon ahnten wir nichts, <strong>als</strong><br />

uns der Pferdewagen vom Kolchos abholte,<br />

und wir mit unserem kläglichen Hab und<br />

Gut auf dem Wagen saßen und aus der<br />

Stadt in die Steppe rollten.<br />

Von der Kolchosverwaltung wurden<br />

wir schon erwartet. Die Mitglieder saßen in<br />

einem engen Raum im Kreis auf Kissen,<br />

bewirteten uns mit Tee und Urjuk - getrockneten<br />

Pfirsichen - und sahen uns an. Sie<br />

sprachen einige Brocken Russisch, so daß<br />

wir uns notdürftig verständigen konnten.<br />

Die erste Nacht schliefen wir im Nebenraum<br />

auf Watternatralzen, der Fußboden bestand<br />

aus gestampftem Lehm. Wahrscheinlich<br />

wurde er meist <strong>als</strong> Vorratsraum genutzt.<br />

Zwei Tage später wies man uns in ein Gästezimmer<br />

ein. Eine wacklige I lolztrcppe führte<br />

zu ihm hinauf. Die Einrichtung bestand aus<br />

einem \, einer schmalen Bank und<br />

einem Tisch. Großzügigerweise gab man<br />

uns die Wattematratzen mit.<br />

Als Gregor am morgen unseres ersten<br />

Tages im Kolchos aufwachte, sagte er zu mir:<br />

»Mir geht es nicht gut. Ich glaube, ich habe<br />

Lungenentzündung. - Ich hab das schon<br />

einmal gehabt.« Er hatte sich auf dem kalten<br />

Lehmboden erkältet,<br />

Am 13. Dezember war Gregors Zustand<br />

so ernst, daß ich ihn ins Krankenhaus bringen<br />

mußte. Der Arzt, der für unseren Kolchos<br />

zuständig war, sah, in welcher Verfassung er<br />

sich befand, und gab ihm eine Überweisung<br />

ins Krankenhaus von Fergana. Ich ging in<br />

die Verwaltung und sagte, daß Gregor ins<br />

Krankenhaus gebracht werden müsse. Der<br />

Kolchosvorsitzende versprach, am nächsten<br />

Morgen, früh um sieben Uhr, würde ein<br />

Wagen in die Stadt fahren und Gregor könne<br />

mitfahren. Als ich am nächsten Tag früh aufstand,<br />

war der Hof leer. Der Wagen war eher<br />

abgefahren, und Gregor hatten sie vergessen.<br />

Ich ging zum Vorsitzenden, aber der zuckte<br />

nur mit der Schulter. Sie holten aus dem Stall<br />

einen mageren Grauschimmel und erklärten,<br />

auf ihm würde Gregor in die Stadt gebracht.<br />

Die Zügel führte ein alter, dürrer Usbeke,<br />

und Gregor wurde hinter ihm aufs Pferd<br />

gehoben. In der Nacht war nasser Schnee<br />

gefallen. Wir zogen los. Das Pferd trug die<br />

beiden Ma'nner, ich stapfte in meinen Schaftstiefeln<br />

hinterher und hielt mich am Schwanz<br />

des Pferdes fest, denn ich hatte Angst, sie<br />

aus den Augen zu verlieren. Als wir im Krankenhaus<br />

ankamen, war der Aufnahmeraum<br />

überfüllt. Alle guckten uns böse an: Noch<br />

einer, der da rein will! Mitten im Raum, auf<br />

der Erde, lag ein alter frommer Jude mit langem<br />

weißem Bart und Schläfen-locken, sein<br />

Gesicht war gelb und eingefallen, er jammerte<br />

vor Schmerzen.<br />

Ich gab den Einweisungsschein ab. Wir<br />

mußten nicht lange warten, bis Gregors<br />

Name aufgerufen wurde. Empörung und<br />

Entsetzen bei all den anderen. Die Schwester<br />

reagierte kühl: »Dieser Mann hat schon gestern<br />

seinen Einweisungsschein bekommen.<br />

Sie alle haben erst einen von heute, oder Sie<br />

haben keinen. Also wird er aufgenommen!«<br />

Als ich danach Stefan in der Krippe besuchen<br />

wollte, überreichte mir die leitende<br />

Ärztin unser Kind mit den Worten: »Er muß<br />

ins Krankenhaus, er hat vielleicht Lungenentzündung!«<br />

Das Kinderkrankenhaus befand sich in<br />

der Nähe. Die Aufnahmeärztin war gerade<br />

beschäftigt. Vor ihr stand eine Frau mit einem<br />

Jungen auf dem Arm und weinte, die Ärztin<br />

hatte ihr gesagt, daß sie ihr Kind nicht aufnehmen<br />

könne, weil keine Betten mehr frei<br />

seien und außerdem der Einweisungsschein<br />

fehle. Hinter dem Rücken der Frau gab mir<br />

die Ärztin ein Zeichen, den Hintereingang<br />

zu benutzen. Die Frau mit dem Jungen bemerkte<br />

natürlich, daß ich plötzlich wortlos<br />

verschwand, und im Abgehen hörte ich sie<br />

weinen: »Warum darf die, warum ich nicht?«<br />

— »Sie hat von der Krippe eine Einweisung<br />

bekommen, ich muß ihn aufnehmen.«<br />

Nachdem ich Gregor und Stefan ins<br />

Krankenhaus gebracht hatte, ging ich noch<br />

einmal zur Beamtin der Fürsorge: »Ich weiß<br />

nicht, wem ich mich nun zuerst zuwenden<br />

soll, meinem kranken Mann, meinem kranken<br />

Kleinkind oder meinem Sohn, der nun<br />

allein im Kolchos sitzt.« Im Rayon gab es ein<br />

Heim für evakuierte Kinder aus Belorußland.<br />

Man bot mir an. Pirn dort unterzubringen.<br />

Einzige Bedingung war eine Bescheinigung,<br />

daß er keine ansteckende Krankheit hatte.<br />

Anschließend lief ich wieder zum Kinderkrankenhaus.<br />

Die Mütter der kleineren Kinder<br />

durften die Nacht über bleiben. Es war schon<br />

sehr spät, Pim saß allein im Kolchos, ich<br />

sagte, ich müsse gehen, und man warf mir<br />

vor: »Wie können Sie das Kind alleine lassen,<br />

das stirbt Ihnen ja!«<br />

Der Weg zurück in den Kolchos führte<br />

über viele kleine Brücken und ich fürchtete,<br />

in der Dunkelheit auf den mit matschigem<br />

Schnee bedeckten Bohlen auszurutschen<br />

und in einen dieser Aryks zu stürzen.<br />

Am 14. Dezember brachte ich Pim in dieses<br />

Kinderheim. Es war fürchterlich für mich,<br />

ihn dort abzugeben. Es gab nur Betten für<br />

Erwachsene, und so schliefen die Kinder zu<br />

zweit in einem Bett, aber es war ein warmes<br />

Bett. Wegen der Entfernung vom Kolchos<br />

konnte ich ihn leider nicht jeden Tag besuchen,<br />

doch ich wußte, daß er dort wenigstens<br />

regelmäßig zu Essen bekam, und in ihrem<br />

Zimmer stand ein Weihnachtsbaum.<br />

2)1999

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