Download Innenteil als PDF - Weibblick
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BILDUNG<br />
Die Spatzen pfeifen es von den Dächern:<br />
Der >«Leser« ist eif*e Les&rin.<br />
Als 1985 Kinder zwischen 8 und 12 Jahren<br />
befragt wurden, zeigte sich, daß 80 Prozent<br />
der Mädchen, aber nur 61 Prozent der Jungen<br />
täglich oder mehrm<strong>als</strong> pro Woche in ihrer<br />
Freizeit lasen. In einer neueren Studie über<br />
das Leseverhalten von Kindern und Jugendlichen<br />
war das Verhältnis noch deutlicher: 70<br />
Prozent der Jungen, aber nur 30 Prozent der<br />
Mädchen waren »leseabstinent«. 1993 waren<br />
78 Prozent der Frauen, aber nur 67 Prozent<br />
der Männer im weitesten Sinne »Leser«,<br />
Intensiv, <strong>als</strong>o mehrm<strong>als</strong> pro Woche, lasen 42<br />
Prozent der Frauen, gegenüber 31 Prozent<br />
Männern. Und Frauen lesen nicht nur mehr,<br />
sondern auch anders: Etwa ein Drittel aller<br />
lesenden Frauen und Männer lesen nach<br />
einer Studie von Renate Köcher sowohl zur<br />
Unterhaltung <strong>als</strong> auch zur Information.<br />
Doch mit 52 Prozent der Leserinnen<br />
(gegenüber 32 Prozent der Leser) ist die<br />
»Unterhaltung« bei lesenden Frauen deutlich<br />
stärker repräsentiert, während nur n Prozent<br />
der lesenden Frauen (31 Prozent der Männer)<br />
vorwiegend zur Information lesen. Der bewertende<br />
Beigeschmack der Begriffe »Unterhaltung«<br />
und »Information« verkehrt sich leicht,<br />
wenn man sich klarmacht, daß »Informationen«<br />
auch ein Ratgeber über das Reparieren<br />
von Autos bietet, während selbst hochkomplizierte<br />
Lyrik zur »Unterhaltung« gelesen<br />
wird. Aber ich will nicht das Lesen von<br />
Fachliteratur denunzieren, sondern darauf<br />
hinweisen, daß nach allem, was die Studien<br />
des letzten Jahrzehnts ergeben haben, Frauen<br />
schlicht lustvoller lesen. Sich zu bilden oder<br />
durch das Lesen Überlegenheit über andere<br />
zu erreichen, gaben dagegen Männer häutiger<br />
an. Entspannung, das Abtauchen in Phanlasiewelten<br />
und das Miterleben von Gefühlen<br />
ist für Frauen ein wesentliches Motiv beim<br />
Lesen. »Abtauchen in Phantasiewelten« steht<br />
dabei nicht - und schon gar nicht ausschließlich<br />
- für die Flucht aus den Widersprüchen<br />
des alltäglichen Lebens, sondern für die<br />
intensive Auseinandersetzung mit literarischen<br />
Figuren, Identifikation oder Abgren-<br />
7ung. So sind in den letzten beiden<br />
Jahrzehnten gerade im Bereich der klassischen<br />
Unterhaltung mit den sogenannten<br />
Frauenkrimis und mit von Frauen geschriebener<br />
Science Fiction zwei Genres entstanden,<br />
die die soziale und politische Situation von<br />
Frauen differenziert widerspiegeln.<br />
Auch von Männern verfaßte belletristische<br />
Bücher werden - folgt man der Logik<br />
der Statistik - von mehr Frauen <strong>als</strong> Männern<br />
gelesen. Aber ziehen Männer die Frauen <strong>als</strong><br />
Publikum auch in Betracht? Dazu ein Beispiel<br />
und ein Gegenbeispiel:<br />
Als 1982 die Novelle »Der fremde Freund«<br />
von Christoph Mein erschien, wurden Rezensenten<br />
und Leser nicht müde, zu betonen, wie<br />
unglaublich gut Hein sich in die Rolle der<br />
Ich-Erzählerin, einer Ärztin, eingefühlt habe.<br />
Aber auch der »fremde Freund« ist sehr<br />
glaubhaft geschildert, ebenso wie die Verhältnisse<br />
des real existierenden Sozialismus. Ist<br />
es denn nicht selbstverständlich, daß der<br />
Autor sich in die Erzählfigur hineinversetzt,<br />
die er doch selbst gewählt hat? Ist vielleicht<br />
das eigentlich Bemerkenswerte, daß Hein<br />
eine Erzählerin und keinen Erzähler wählte?<br />
Viele Leser und manche Leserinnen stellten<br />
fest, diese Erzählerin sei kühl, beziehungsarm.<br />
Diese Erzählerin beschreibt mehrfach<br />
präzise die Gewalttätigkeit ihres Freundes<br />
gegen sie, bis zur Vergewaltigung. Einmal<br />
schlägt er sie, und sie kommentiert: »... aber<br />
ich weiß auch, daß irgendwann, in irgendeiner<br />
besonders komplizierten und nervösen<br />
Situation jeder Mann schlagen wird. Sie<br />
werden sich gegenüber anderen Männern<br />
zurückhalten können, aber nicht gegen<br />
Frauen und Kinder. (...) Nach der Frau<br />
schlägt man wie nach dem Hund, nebenher.<br />
Notwendige Erziehungsmaßnahme zum<br />
Nutzen des Geschlagenen. Die Umarmung<br />
kann dem Schlag unmittelbar folgen.<br />
Schließlich, man haßt nicht, man rückt nur<br />
etwas gerade.« Leicht vorstellbar, daß ein<br />
männlicher Leser lieber die Kühle der Erzählerin<br />
hervorhebt <strong>als</strong> ihren Realismus. Mehrere<br />
Frauen haben mich auf diese Textstelle<br />
aufmerksam gemacht. Heins Erzählerin ist<br />
deswegen nicht zu ihrem »Vorbild« geworden.<br />
Das Angebot der von ihr mitgeteilten<br />
Erfahrung wurde von den Leserinnen jedoch<br />
wahrgenommen, es war ihnen möglich, in<br />
der Rolle dieser Figur einen - den entscheidenden<br />
- Augenblick lang sich selbst zu<br />
sehen. Hein hat es verstanden, Erfahrungen<br />
von Frauen <strong>als</strong> menschlich, notwendig und<br />
literaturwürdig mitzuteilen und sie in einen<br />
politischen Zusammenhang zu stellen,<br />
Das Gegenbeispiel: Vor einiger Zeit empfahl<br />
mir ein Bekannter den berühmten<br />
»Lolita«-Roman von Nabokov <strong>als</strong> »erotisches<br />
Buch«. »Lolita« wird aus der Sicht von Humbert<br />
erzählt, eines Mannes, der eine »sexuelle<br />
Vorliebe« für Minderjährige hat. Er heiratet<br />
die Mutter einer Zwölfjährigen, ermordet die<br />
Erwachsene und beginnt, das Mädchen jahrelang<br />
zu vergewaltigen, unter dem zynischen<br />
Vorwand einer angeblich »unglücklichen Leidenschaft«.<br />
Dabei ist sich der Täter-Erzähler<br />
die ganze Zeit bewußt, daß er ein Verbrechen<br />
begeht. Bei der Rückgabe des Buches<br />
wies ich darauf hin, wie erstaunlich offen der<br />
Autor Nabokov mit dieser Tatsache verfährt.<br />
Der Mann, der mir das Buch geliehen hatte,<br />
fragte verblüfft, wo das denn stünde? Er habe<br />
,vs 2(1999