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„Sollen sie es halt zensieren...“<br />
Kunst kann man als ästhetischen Selbstausdruck des Künstlers definieren. Nur der Wert der Kunst muss letztlich durch<br />
den Betrachter oder auch vom Zeitgeist festgelegt werden. Nachdem KMFDM bereits seit knapp 30 Jahren Album um<br />
Album veröffentlichen, scheinen sie den Zeitgeist ganz gut zu treffen. Da bietet es sich doch schier an, ein Werk eben<br />
Kunst zu nennen und jene – obwohl man das eigentlich nicht macht – zu erklären. Angefangen beim Coverbild, welches<br />
eine eher unvollständig bekleidete Frau zeigt, die gerade ein Kreuz zersägt...<br />
Sascha Konietzko: Auf dieses<br />
Motiv hat unser Artworkkünstler Brute!<br />
wahrscheinlich sein Leben lang gewartet.<br />
Wir haben seit dem Beginn unserer<br />
Zusammenarbeit 1988 auf nahezu allen<br />
Alben seine Kunst präsentiert. Mir gefällt<br />
neben seinem wirklich unverkennbaren<br />
Stil vor allem auch seine Motivwahl,<br />
denn er zeigt meistens starke und in<br />
gewisser Weise dominante Frauen in<br />
prekären Situationen. Das Cover ist<br />
eigentlich gar nicht so offensiv, wie es<br />
sich zunächst darstellt, denn es ist ein<br />
reales Stück Geschichte und lediglich eine<br />
künstlerische Darstellung eines tatsächlich<br />
erfolgten Protests der ukrainischen<br />
Aktivistengruppe FEMEN gegen das<br />
Urteil für Pussy Riot.<br />
<strong>Orkus</strong>: Das ist dann auch gleich einer<br />
der zentralen thematischen Aspekte des<br />
Albums.<br />
SK: Natürlich, denn um etwas zu<br />
verändern und Aufmerksamkeit zu<br />
bekommen, muss man sich halt einfach<br />
auch mal die Hände schmutzig machen.<br />
Anstatt frustriert im stillen Kämmerlein<br />
zu sitzen und herumzunörgeln, haben<br />
sich die Mädels von Pussy Riot mit einem<br />
Schlag auf jedwedes Cover der Weltpresse<br />
katapultiert, indem sie ihren Unmut<br />
über Putins russische Verhältnisse als<br />
„Happening“ inszenierten. Und später<br />
konnten sie auch noch den Märtyrerbonus<br />
kassieren – das war so sicher auch noch nie<br />
dagewesen. Dazu passend die Reaktion<br />
von FEMEN auf das Urteil gegen die<br />
Band, indem sie mitten in Kiew ein Kreuz<br />
mit einer Kettensäge zerlegen. Und dann<br />
hat Lucia noch konsequenterweise den<br />
Titel Pussy Riot geschrieben.<br />
O: Das neue Material klingt generell<br />
recht wütend. Wer kriegt noch alles sein<br />
Fett weg?<br />
SK: Es geht doch gar nicht darum,<br />
wen oder was wir anprangern, denn<br />
man braucht sich seine Ziele heutzutage<br />
überhaupt nicht mehr zu suchen. Die<br />
Ziele kommen im Zeitalter des Internets<br />
dankenswerterweise durch die diversen<br />
Nachrichtenkanäle frei Haus. Es gibt so<br />
viel Inspirationen, und man kommt gar<br />
nicht mehr drum herum, wenn man die<br />
Augen und Ohren offen hält. So wütend<br />
finde ich Kunst an sich aber gar nicht,<br />
sondern eher deutlich und laut. Das waren<br />
KMFDM aber schon immer, und das wird<br />
sich auch nicht ändern.<br />
O: Mit einem so offensiven Cover läuft<br />
man doch aber gerade in den USA Gefahr,<br />
zensiert zu werden? Und das, wo ihr doch<br />
bestimmt auch mit Kunst einen Platz in den<br />
„Billboard“-Charts anpeilt, da es mit WTF?!<br />
so schön funktioniert hat.<br />
SK: Hin und wieder haben wir bereits<br />
mit der Zensur zu tun gehabt, zum<br />
Beispiel, als unser Video zu More & Faster<br />
1992 zwar von MTV gesendet, aber mit<br />
Bleeps versehen wurde. Das ist mir jedoch<br />
absolut egal. Sollen sie es halt zensieren,<br />
denn Zensur hat eigentlich ja immer den<br />
gegenteiligen Effekt – es macht Sachen<br />
noch viel interessanter. Und was die Charts<br />
betrifft, so wird da gar nichts angepeilt,<br />
denn mit dieser Einstellung verpeilt man<br />
sich nämlich garantiert. Ich finde einfach,<br />
dass der Erfolg eines neuen Albums nicht<br />
wirklich an einem Charteinstieg zu messen<br />
ist, sondern daran, wie es sich verbreitet.<br />
Charts sind doch nichts anderes als ein<br />
großer Hype, und auch in den USA ist es<br />
genau wie hier: Es gibt Charts und es gibt<br />
harte Zahlen. Und nur Letzteres zählt.<br />
O: Inwiefern kann Musik im Speziellen<br />
oder Kunst im Allgemeinen dazu beitragen,<br />
auf Missstände aufmerksam zu machen? Ist<br />
das nicht schon ausgelutscht? Oder durch<br />
Provokation um der Provokation willen<br />
totgetrampelt?<br />
SK: Es ist ganz einfach: Durch Bekanntheit<br />
erreicht man Menschen. Ob so etwas<br />
„ausgelutscht“ oder „totgetrampelt“ ist,<br />
hängt wohl von der Sichtweise ab. Wenn<br />
man als Konsument lieber inhaltsloses<br />
Gesäusel mag, kann und muss man das sicher<br />
so sehen. Wenn man aber in irgendeiner<br />
Form engagiert ist und Kunst oder Musik<br />
entdeckt, die nicht nur zum Zweck des<br />
Konsums und zur bloßen Unterhaltung<br />
gemacht ist, sondern Inhalte vermittelt und<br />
mitunter auch krasse Denkanstöße gibt,<br />
dann ist meine Idealvorstellung, dass man<br />
neugierig werden könnte.<br />
O: Ihr veröffentlicht in steter<br />
Regelmäßigkeit Alben, die sich weder<br />
wiederholen noch qualitativ abfallen.<br />
Woher kommen nach all den Jahren nur<br />
immer wieder die Ideen?<br />
SK: (lacht) Na, freu’ dich doch! Ganz<br />
ehrlich: Das kann man sehr schlecht<br />
erklären, es gibt halt einfach kreative<br />
Menschen und andere, denen die<br />
Kreativität eher abgeht. An Inspiration<br />
mangelt es zudem nie, und warum dann<br />
nicht das tun, was man am besten kann<br />
und am liebsten tut? Wenn ich irgendwann<br />
gar nichts mehr zu sagen haben, mache ich<br />
einfach instrumentale Musik.<br />
O: Obwohl ihr auch mit Kunst nicht<br />
altbacken klingt, finden sich doch auch<br />
keine Elemente wie Dubstep in eurem<br />
Sound, die derzeit so en vogue sind. Steht<br />
die Anpassung an aktuelle Trends für<br />
KMFDM jemals zur Debatte?<br />
SK: Nein, überhaupt nicht, denn Trends<br />
sind genau das: nur Trends! Wenn ich<br />
das linguistisch betrachten würde, würde<br />
„trendeln“ so etwas wie „kreiseln“ oder<br />
„nach unten rollen“ bedeuten. Anstatt also<br />
nach unten zu rollen, loten wir die Grenzen<br />
des Machbaren aus und hängen unser<br />
Fähnchen nicht in den ständig wechselnden<br />
Wind. Und das ist gut so.<br />
www.kmfdm.net<br />
Lars Schubert<br />
Photo: Franz Schepers<br />
Discographie (Alben):<br />
Opium (1984)<br />
What Do You Know, Deutschland? (1986)<br />
Don’t Blow Your Top (1988)<br />
UAIOE (1989)<br />
Naïve (1990)<br />
Money (1992)<br />
Angst (1993)<br />
Nihil (1995)<br />
Xtort (1996)<br />
Symbols (1997)<br />
Adios (1999)<br />
Attak (2002)<br />
Sturm & Drang Tour 2002 (live, 2002)<br />
WWIII (2003)<br />
WWIII Live 2003 (live, 2004)<br />
Hau Ruck (2005)<br />
Tohuvabohu (2007)<br />
Blitz (2009)<br />
WTF?! (2011)<br />
Kunst (2013)<br />
Line-Up:<br />
Sascha Konietzko – Gesang, Gitarre, Bass,<br />
Programmierung, Keyboard, Percussion<br />
Lucia Cifarelli – Gesang, Keyboard<br />
Steve White – Gitarre<br />
Jules Hodgson – Gitarre, Bass, Keyboard<br />
Andy Selway – Schlagzeug<br />
<strong>Orkus</strong>! - 65