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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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schwedisches Möbelhaus mahnt: „Wann<br />

hast du eigentlich das letzte Mal deine<br />

Matratze ausgewechselt?“ Als Besucher<br />

einer deutschen Filiale des Unternehmens<br />

hören wir aber schon mal eine<br />

Lautsprecherdurchsage: „Gesucht wird<br />

der Halter des Fahrzeugs mit dem Kennzeichen<br />

XY. Bitte melden Sie sich umgehend<br />

an der Information!“ Damit die<br />

Älteren beim flüchtigen Hinhören nicht<br />

denken, es würde nach einem Kind gesucht,<br />

wird sicherheitshalber gesiezt.<br />

IM BERUFSALLTAG nimmt das Duzen epidemische<br />

Ausmaße an. In Österreich dominiert<br />

laut einer Umfrage das Du am<br />

Arbeitsplatz zu 58 Prozent. Hierzulande<br />

dürfte es ähnlich sein. Die Verwirrung<br />

ob der Anreden ist dermaßen groß, dass<br />

Praxisratgeber kursieren. Denn, heißt es<br />

bei stil.de, „es ist heute nicht mehr so,<br />

dass man sich im Berufsleben nur noch<br />

dann duzt, wenn man sich schon länger<br />

kennt oder einander sympathisch ist“.<br />

So hat eine Nürnberger Bank vor<br />

Jahren bereits das Du zur Firmenetikette<br />

erklärt – vom Vorstandsvorsitzenden<br />

bis zum Pförtner. „Wir wollen es möglichst<br />

geschlossen tun“, gab der Bankchef<br />

vor. „<strong>Das</strong> müssen wir üben, und es wird<br />

manchmal auch zu Irritationen führen.“<br />

Wohlgemerkt, sagte der Banker: „Es handelt<br />

sich nicht um ein Sympathie-Du, sondern<br />

um einen Ausdruck von Professionalität<br />

im Sinne des englischen You.“<br />

Sattelfest scheint der Mann im Angelsächsischen<br />

nicht gewesen zu sein. You<br />

heißt übersetzt nicht Du. You ist zweite<br />

Person Plural und bedeutet Euch. <strong>Das</strong><br />

altenglische Thou, zweite Person Singular,<br />

war die ursprüngliche Duz-Form. Im<br />

13. Jahrhundert setzte sich in England als<br />

Anrede das vornehme You nach dem Vorbild<br />

französischer Hofsitten durch. <strong>Das</strong><br />

intime Thou blieb in literarischer Form<br />

etwa bei Shakespeare erhalten – und dem<br />

Zwiegespräch mit Gott, wie die Bibelübersetzung<br />

in der King-James-Version<br />

belegt: „How hast thou helped him that<br />

is without power?“, hadert Hiob mit seinem<br />

Schöpfer („Wie sehr stehst du dem<br />

bei, der keine Kraft hat?“).<br />

Kurzum, das You ist keine Umarmung<br />

von jedermann, sondern ein diskreter<br />

Nachhall vergangener Zeiten, da<br />

die Menschen einander auf schickliche<br />

Distanz hielten. In deutschen Landen<br />

Die Tyrannei<br />

der Nähe durch<br />

das Du verdanken<br />

wir der antibürgerlichen<br />

Bewegung der<br />

sechziger Jahre<br />

gingen jahrhundertelang das Ihr und das<br />

Er dem späteren Sie und Du voraus. Adel<br />

wie Klerus wurden seit dem 8. Jahrhundert<br />

ge-ihr-zt: „Erlaubt Ihr, dass ich vortrete?“<br />

Der Fürst selbst pflegte den Pluralis<br />

Majestatis: „Wir erlauben.“ Als sich<br />

im 19. Jahrhundert die ständische Gesellschaft<br />

in eine bürgerliche wandelte,<br />

wurde das Sie gebräuchlich, mithin die<br />

Anrede „Herr“, „Frau“ und „Fräulein“.<br />

Bis nach dem Ersten Weltkrieg siezten<br />

Kinder ihre Eltern.<br />

Die Tyrannei der Nähe durch das Du<br />

verdanken wir der antibürgerlichen Bewegung<br />

der sechziger Jahre. Rock ’n’ Roll<br />

und studentische Linke orientierten sich<br />

am kommunistisch-genossenschaftlichen<br />

Bruder-Du. Siezen galt als spießig, das<br />

universelle Du täuschte ein egalitäres<br />

Miteinander vor. Die Anfänge des westdeutschen<br />

Zwangs-Duzens erlebte ich in<br />

den siebziger Jahren, als die Achtundsechziger<br />

an den Schulen unterrichteten<br />

und ich meinen Lateinlehrer „Niklas“<br />

nennen sollte. Die einstigen Duz-Lehrer<br />

erteilten Zensuren. Die heutigen<br />

Duz-Vorgesetzten sind weisungsbefugt.<br />

Einmal entzog ein Journalistenkollege<br />

seinem Chef aus Protest das Du – und<br />

wurde kurz darauf entlassen.<br />

Unsere verduzte Gesellschaft ist<br />

eine Simulation. Wir spüren die sinkende<br />

Temperatur im täglichen Konkurrenzkampf.<br />

Mit dem Du wollen wir uns<br />

Freundlichkeit, Vertraulichkeit und Nestwärme<br />

vorgaukeln. Dahinter verbirgt<br />

sich die Lebenslüge einer Generation.<br />

Die Babyboomer regieren das Land –<br />

in Wirtschaft, Politik, Kultur. Es sind die<br />

Plusminusfünfzigjährigen, die sich weigern,<br />

erwachsen zu werden. Obwohl<br />

sie Kinder haben, leitende Positionen<br />

einnehmen und erste Altersbeschwerden<br />

beklagen, delirieren sie beharrlich, jung<br />

zu sein. Frauen lassen sich liften, betagte<br />

Kerle laufen in Kapuzenjacken herum.<br />

Wer von Berufs wegen Krawatte trägt,<br />

gibt eine Zwangslage zu erkennen – wie<br />

in einen Konfirmationsanzug genötigt.<br />

Derlei Dresscodes verraten, dass<br />

die Babyboomer noch immer so tun, als<br />

hätten sie mit der Welt der Erwachsenen<br />

nichts gemein. Mit den gesellschaftlichen<br />

Widersprüchen, der sozialen Kälte,<br />

dem Raubbau an der Natur. Es wird Zeit,<br />

dass meine Generation akzeptiert, dass<br />

sie selbst verantwortlich ist für die Verwahrlosung<br />

der Sitten.<br />

Zu den Prototypen der Peter-Pan-<br />

Fraktion gehören der TV-Komiker Stefan<br />

Raab, 47, und der Kulturstaatssekretär<br />

Berlins, Tim Renner, 49. Der vormalige<br />

Musikmanager mit dem Gestus des ewigen<br />

Halbstarken sagt: „Facebook ist für<br />

mich der Kontakt zur Groundcontrol.“<br />

In seiner Behörde arbeitet er an behaglichen<br />

Umgangsformen: „Selbst das für<br />

die Musikbranche notorische Duzen haben<br />

wir in der Verwaltung übernommen.<br />

Wir duzen uns zwar noch nicht alle, sind<br />

aber auf dem besten Wege.“<br />

MEINE ALTERSKOHORTE nennt solch eine<br />

Haltung modern. Tatsächlich steckt hinter<br />

der vermeintlichen Lockerheit ein<br />

verächtlicher Brutalismus. Wir schauen<br />

auf andere Menschen herab wie auf<br />

uns selbst. <strong>Das</strong> Gespür für menschliche<br />

Größe ist uns abhandengekommen. Deshalb<br />

gehen wir achtlos miteinander um,<br />

halten uns für affektgesteuerte Gestalten,<br />

die mutlos auf Verbraucherrechte pochen.<br />

Deshalb entfährt uns das Du.<br />

Eine Rekultivierung des Sie wäre ein<br />

aufschlussreiches kollektives Exerzitium.<br />

Wir kämen raus aus der unechten Nähe<br />

und würden einen wohltuenden Abstand<br />

schaffen, einen Spielraum für unsere<br />

Wahrnehmung, um das Andersartige<br />

beim Mitmenschen zu entdecken. Es<br />

könnte ein Trainingslager sein, um zu lernen,<br />

von Sterblichen wieder grandios zu<br />

denken und Respekt zu empfinden. Ich<br />

kenne Menschen, die das tun. Es sind<br />

Menschen, die gerne siezen.<br />

HOLGER FUSS empfindet als Norddeutscher<br />

seit jeher schon ein Unbehagen wider unpassende<br />

Vertraulichkeiten<br />

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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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