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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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BERLINER REPUBLIK<br />

Gespräch<br />

Jakob Augstein: Herr Meyer, würden Sie<br />

die Ukrainekrise als einen Konflikt zwischen<br />

Ost und West bezeichnen?<br />

Frank A. Meyer: <strong>Das</strong> ist ein Konflikt<br />

zwischen Ost und West. Aber nicht<br />

so, wie wir den Ost-West-Konflikt in Erinnerung<br />

haben: dort das diktatorische<br />

Sowjet-Imperium, hier der freie Westen.<br />

Es ist ein Konflikt zwischen der römischchristlichen<br />

und der orthodox-christlichen<br />

Kultur. Natürlich: nicht nur! Aber<br />

eben doch ein Konflikt, dessen Ursachen<br />

tiefer in der Geschichte zu finden sind<br />

und nicht einfach im Machtpoker zwischen<br />

dem EU-Raum und Russland. Die<br />

Religionskultur ist ein ganz wesentlicher<br />

Punkt, der vom Westen, von Brüssel,<br />

auch von der Nato leider kaum in<br />

Betracht gezogen wurde. <strong>Das</strong>s man auf<br />

europäischer Ebene ein Assoziierungsabkommen<br />

mit der Ukraine aushandelte,<br />

ohne die kulturellen Bruchlinien in diesem<br />

Land zu beachten, war fahrlässige<br />

ökonomische Machtpolitik.<br />

Dann sind Sie ja ein richtiger Putin-<br />

Versteher.<br />

Ich kann verstehen, dass es in der<br />

Ukraine zu kulturellen Verwerfungen<br />

kam: Ungleichzeitigkeiten. Ja, wir erleben<br />

in diesem Konflikt die Ungleichzeitigkeit<br />

der ehemaligen sowjetischen<br />

Welt, die sich in jüngster Zeit ganz stark<br />

nach dem Orthodoxen zurücksehnt. <strong>Das</strong><br />

sieht man in der Ukraine, in Russland<br />

und auch bei Putin selbst. Der frühere<br />

KGB-Agent ist fromm geworden. Er gräbt<br />

nach einer Herkunftskultur, die von der<br />

Sowjetdiktatur verschüttet wurde.<br />

Ob er selber fromm ist oder nicht, wissen<br />

wir nicht. Er wurde in einem Interview<br />

gefragt, da hat er sich nicht geäußert.<br />

Er umgibt sich mit dem orthodoxen<br />

Klerus, sonnt sich in kirchlichem Glanz.<br />

Aber Sie glauben doch nicht, dass er das<br />

macht, weil er selbst fromm geworden<br />

ist!<br />

Ich glaube, er sucht nach einer <strong>neue</strong>n<br />

alten Identität für sich und für Russland.<br />

Auf uns Westeuropäer wirkt das befremdlich.<br />

Unsere Identität ist eine moderne,<br />

säkulare. Wir suchen Identität<br />

eher in unserer Demokratie, in der Sicherung<br />

des Rechtsstaats und im Erhalt von<br />

Freiheitsräumen. Unsere Frage lautet:<br />

„ Die EU hat<br />

die kulturellen<br />

Bruchlinien in<br />

der Ukraine<br />

nicht beachtet.<br />

Fahrlässige<br />

Machtpolitik “<br />

Frank A. Meyer<br />

Wie setzen wir das Ich und das Wir in<br />

ein möglichst ausgewogenes Verhältnis?<br />

Sie erklären den Ukrainekonflikt zu einem<br />

kulturellen Konflikt. Ich glaube,<br />

so groß ist der kulturelle Unterschied<br />

zwischen den Russen und uns gar nicht,<br />

sondern hier handelt es sich um einen<br />

Interessenkonflikt zwischen Kulturen,<br />

die vielleicht nicht in einem Geschwisterverhältnis<br />

zueinander stehen, aber<br />

in einem Vetternverhältnis. Wir erleben<br />

einen Interessenkonflikt, es geht<br />

um Abgrenzung und um Dominanz.<br />

Mich hat sehr gewundert zu hören und<br />

zu lesen: „Die Geopolitik kehrt zurück.<br />

<strong>Das</strong> Denken in Einfluss- und Machtsphären<br />

kehrt zurück.“ <strong>Das</strong> Denken in Einfluss-<br />

und Machtsphären prägt doch<br />

die internationale Politik immerzu, in<br />

Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.<br />

In den letzten 20 Jahren haben<br />

40<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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