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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

Sie zeigten, dass ein Nebeneinander von ausgeprägter<br />

Vaterlandsliebe und europäischer Integration weder<br />

neu noch ein Geschöpf der nationalen Identitäten der<br />

Staaten der Neuen Welt ist und schon gar nicht rechtem<br />

Gedankengut entsprang.<br />

Natürlich hätten weder die Vaterlandspartei<br />

des späten Kaiserreichs noch die NSDAP<br />

mit einem solchen Nationalismusbegriff etwas<br />

anfangen können. Aber Fischers faszinierende<br />

Funde offenbarten, dass deutsche und französische<br />

Politiker in der Zeit zwischen Stresemann<br />

und Hitler eine solche Nationen- und Europapolitik<br />

verfolgten.<br />

So richtig fielen mir die nationalen Scheuklappen<br />

in Kanada in der jüdischen Familie meiner Frau<br />

von den Augen. Bei meinem ersten Besuch bei meinen<br />

künftigen Schwiegereltern in Toronto wehte mir eine<br />

kanadische Flagge entgegen, als ich auf das Haus zuging,<br />

in dem meine Frau aufgewachsen war. Genauso<br />

selbstverständlich, wie die Frau meiner Familie am<br />

jährlichen Canada Day sich in den Farben Kanadas<br />

zum Grillen kleidet, schenkte mir die Großmutter meiner<br />

Frau vor der Fußball-WM 2006 ein Deutschland-T-<br />

Shirt. Meine Schwiegereltern verstanden nicht, wieso<br />

die zur Weltmeisterschaft auftauchenden schwarzrot-goldenen<br />

Fahnenmeere zu Kontroversen in meiner<br />

Heimat führten: „Aber es ist doch schön, wenn sich<br />

die Deutschen mit ihrer Mannschaft freuen.“<br />

Der Kontrast zwischen kanadischer Vaterlandsliebe<br />

und deutscher wohlgemeinter, aber verkrampfter<br />

Nabelschau wurde mir in den vergangenen Jahren immer<br />

wieder in der unterschiedlichen Erinnerung an den<br />

Ersten Weltkrieg deutlich. 1997 reiste meine Frau mit<br />

ihren Schülern der National Ballet School in Toronto<br />

zum 90. Jahrestag der Schlacht von Vimy Ridge nach<br />

Frankreich. Zusammen mit 3000 weiteren in Replikauniformhemden<br />

gekleideten kanadischen Schülern gedachten<br />

sie der Toten am kanadischen Nationaldenkmal<br />

in Vimy. Begeistert ließen sie sich zusammen mit<br />

dem damaligen kanadischen Oppositionsführer Michael<br />

Ignatieff fotografieren.<br />

Bewegend beschreibt Ignatieff in einem seiner Bücher<br />

diesen Tag und bettet ihn dort in die Geschichte<br />

des kanadischen Liberalismus ein, der vielleicht attraktivsten<br />

politischen Bewegung der Welt. Bei Ignatieff,<br />

dem Autor der Schutzverantwortungsdoktrin der UN,<br />

sind nationale Identität und Internationalismus zwei<br />

Seiten einer Medaille und beide den Toten der Weltkriege<br />

verpflichtet. Die eine Seite bedingt die andere,<br />

da Nationalstaaten nach Ignatieff den Menschen erlauben,<br />

auch in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts<br />

Herr im eigenen Haus zu sein.<br />

Auch Joschka Fischer sprach in einem Band mit<br />

dem Historiker Fritz Stern über das Totengedenken an<br />

den Ersten Weltkrieg. Wie Ignatieff fühlt sich Fischer<br />

dem progressiven Lager zugehörig. Hier enden aber<br />

die Gemeinsamkeiten. Voller Verachtung zog Deutschlands<br />

Ex-Außenminister über Denkmäler wie dasjenige<br />

in Vimy her. Sie sind für ihn nur „ein paar verwitterte<br />

Steine in Form von Kriegerdenkmälern und<br />

Soldatenfriedhöfen“. In den Erinnerungsfeiern an der<br />

ehemaligen Westfront kann er nur „erstarrte Rituale<br />

in Flandern und Nordfrankreich“ sehen. Er war offensichtlich<br />

im Gegensatz zu Ignatieff nicht bei der Gedenkfeier<br />

der Schüler meiner Frau zugegen. Denn Fischer<br />

meint, solche Feiern stießen junge Leute ab und<br />

stünden so einer „kollektiven Erinnerung und Selbstvergewisserung“<br />

im Wege.<br />

Fischers Reaktion ist typisch für den Irrglauben<br />

mancher Deutscher, dass alle anderen Nationen die<br />

gleichen Schlüsse wie sie selbst aus den dunkelsten<br />

Kapiteln gezogen hätten und dass diese Schlüsse programmatisch<br />

sein sollten für eine bessere Zukunft.<br />

Was Fischer und andere Deutsche nicht merken: Sie<br />

stoßen nicht nur die Schüler meiner Frau, sondern die<br />

ganze Welt vor den Kopf. Sie erreichen das Gegenteil<br />

ihres Zieles. Sie treiben Völker auseinander.<br />

Wie mir in den vergangenen 18 Jahren in Oxford,<br />

Glasgow, Toronto, meinen Wanderjahren in Amerika<br />

in Chicago, Philadelphia und am Institute for Advanced<br />

Study in Princeton, dann in Aberdeen und in<br />

Harvard klar geworden ist, beruht die deutsche Herangehensweise<br />

an Nationalstaatlichkeit auf einem einfachen<br />

Denkfehler. Weil die Kriege der Jahre 1914<br />

bis 1945 Auseinandersetzungen zwischen bestehenden<br />

und entstehenden Nationalstaaten gewesen sind,<br />

wird irrigerweise gefolgert, dass die Essenz von Nationalstaatlichkeit<br />

ein überhöhter Nationalismus sei, der<br />

Die deutsche<br />

Herangehensweise<br />

an Nationalstaatlichkeit<br />

beruht auf einem<br />

einfachen<br />

Denkfehler<br />

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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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