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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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Lange: Die Ursache des unglücklichen<br />

Bewusstseins von Hamlet – dass das<br />

Denken Feiglinge aus uns allen macht –<br />

begründet erst die Zivilisation des Menschen.<br />

Für Bertolt Brecht hingegen, der<br />

in seinen Dramen das Archetypische<br />

durch Ideologie ersetzt, war dieses Zurückschrecken<br />

vor der Tat eine logische<br />

Schwäche. Hamlet erschien ihm als Zauderer,<br />

den man in einer Parteiversammlung<br />

zur Ordnung rufen müsste.<br />

Zu den überzeitlichen Erkenntnissen<br />

gehört, was Sie so benannten: An den<br />

Dramen Shakespeares könne man studieren,<br />

„wie die Triebhaftigkeit des<br />

Menschen ( … ) ausschließlich durch das<br />

Denken pervertiert wird“. Ermuntert<br />

uns Shakespeare, weniger zu denken?<br />

Lange: Nein, es gibt da keinen Ausweg.<br />

Menschliches Existieren bleibt eine<br />

große Unvereinbarkeit. Diese Unvereinbarkeit<br />

müssen wir in eine menschenfreundliche<br />

Haltung sublimieren. Wenn<br />

wir stattdessen eine gerechtere gesellschaftspolitische<br />

Ordnung schaffen wollen,<br />

landen wir in China oder Nordkorea.<br />

Da wäre die politische Dimension perdu.<br />

Ostermeier: Shakespeare ist immer<br />

politisch. Der Soziologe Ulrich Beck<br />

prägte 2006 den Begriff der „Generation<br />

Hamlet“ und meinte die damals 30- bis<br />

40-Jährigen, die eine Welt gestalten sollen,<br />

„die auf entmutigende Weise kompliziert<br />

geworden ist“. Wie Hamlet haben<br />

sie das diffuse Gefühl, etwas sei faul,<br />

wissen aber nicht, wo der Feind steht. Sie<br />

spüren nur diesen Zwang zur Handlung<br />

in einer überkomplexen Welt.<br />

Lange: Es kommt aber nicht darauf<br />

an zu handeln, sondern ethisch, menschenfreundlich<br />

zu handeln.<br />

Ostermeier: <strong>Das</strong> Unwohlsein in Europa<br />

speist sich momentan vor allem daraus,<br />

dass die von Ihnen genannte gerechte<br />

Ordnung weit entfernt scheint.<br />

Lange: Da muss ich entgegnen: Der<br />

Mensch, der sozial befreit ist, fängt an,<br />

existenziell zu leiden.<br />

Ostermeier: Hamlet leidet, weil, wie<br />

er sagt, „the time is out of joint“. Die<br />

Übersetzung, die Welt sei aus den Fugen,<br />

trifft es nicht. Bei uns heißt es, „die Zeit<br />

ist ganz verrenkt“. Eine Zeit, ein Zeitalter<br />

kann man vielleicht – anders als die<br />

Welt – wieder einrenken.<br />

Lange: Eine solche Nachdichtung ist<br />

legitim. Grundsätzlich aber darf der Regisseur<br />

nicht im Innovationswahn versinken.<br />

Er muss wissen, dass der große<br />

schöpferische Tigersprung von Shakespeare<br />

kommt. Darum gefiel es mir nicht,<br />

Herr Ostermeier, dass in Ihrer Inszenierung<br />

von „Hedda Gabler“ die Menschen<br />

so absolut gegenwärtig waren, auch in<br />

den Kostümen. Bei Ibsen muss ich das<br />

Zeitalter von Edvard Munch vor mir sehen,<br />

muss der Tigersprung in die Frühzeit<br />

der Psychoanalyse gerichtet sein.<br />

Ostermeier: Mir bereitet es ein großes<br />

Vergnügen, den bildungsbürgerlichen<br />

Kanon in gegenwärtigen Welten zu inszenieren.<br />

Ich würde nie sagen, so muss<br />

man es machen.<br />

„ Der Wahn,<br />

innovativ sein<br />

zu müssen, ist<br />

das schlimmste<br />

Gift im Kulturbetrieb.<br />

Bitte rutschen<br />

Sie nicht in<br />

diese Fallgrube! “<br />

Hartmut Lange<br />

Als Sie „Maß für Maß“ inszenierten, die<br />

bittere Komödie über die Korruption der<br />

Macht, wurde mehr über die Schweinehälfte<br />

debattiert, die von der Bühnendecke<br />

hing, als über Shakespeare. Können<br />

kräftige Bilder den Text verdunkeln?<br />

Ostermeier: Es ist ein großes Missverständnis,<br />

wenn Sie in mir einen Exponenten<br />

des Körper- oder Bildertheaters<br />

sehen. <strong>Das</strong> bin ich nicht. „Maß für<br />

Maß“ wurde „altmeisterlich“ genannt.<br />

Der wunderbare, leider verstorbene Gert<br />

Voss gab den Herzog Vincentio und sagte<br />

danach, er habe das Stück nun erst richtig<br />

verstanden, obwohl er bereits in den<br />

achtziger Jahren in einer „Maß für Maß“-<br />

Inszenierung den Angelo gespielt hatte.<br />

Ich versuche wirklich, mich in diesen<br />

„Tigersprung“ hineinzubohren, in dieses<br />

pervertierende Denken, von dem<br />

Herr Lange sprach. „Maß für Maß“ ist<br />

mein Lieblingsstück, exemplarisch für<br />

viele Stoffe von Shakespeare: Da tritt<br />

jemand – Angelo – mit einem fast stalinistischen<br />

Veränderungswillen auf, will<br />

alles besser machen in diesem verrotteten<br />

Kleinstaat, dessen Herzog sich zurückgezogen<br />

hat. Und entdeckt plötzlich<br />

den Abgrund in sich. <strong>Das</strong> 20. Jahrhundert<br />

war voll von solchen Diktatoren der<br />

Reinheit. Um diese Perversionen zu begreifen,<br />

fängt man an zu denken, und das<br />

Denken bringt einen irgendwann um den<br />

Verstand.<br />

Lange: Wodurch Shakespeare den<br />

Nihilismus vorwegnahm. Nietzsches<br />

Diktum vom Menschen als dem „nicht<br />

festgestellten Tier“, das den Zugang zum<br />

Instinkt verloren habe und dessen Intellekt<br />

nicht in der Lage sei, die Sache zu<br />

korrigieren, findet sich bei Shakespeare<br />

vorab bestätigt.<br />

Also keine Utopie nirgends?<br />

Ostermeier: Seine Utopie war der<br />

weise Herrscher. „Maß für Maß“ hatte<br />

er zum Amtsantritt von König Jakob I.<br />

geschrieben, und in seinem letzten<br />

Stück, „Der Sturm“, hat der der Macht<br />

entsagende Zauberer Prospero, ehemals<br />

Herzog von Mailand, das letzte Wort,<br />

zerbricht den Zauberstab. Eine andere<br />

Antwort hatte er nicht.<br />

Lange: Dennoch enden die meisten<br />

Stücke nicht negativ. Es wird geschlachtet,<br />

wird gemordet, aber der Kreuzigungsgedanke<br />

und dessen Ernst fehlen.<br />

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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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