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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

„DIE GROSSEN VERLIERER<br />

SIND DIE LÄNDER“<br />

Der ehemalige EU-Kommissar<br />

Günter Verheugen und der<br />

bayerische Separatist Wilfried<br />

Scharnagl streiten über<br />

Europa und das Streben nach<br />

Unabhängigkeit<br />

Moderation ALEXANDER MARGUIER<br />

und CHRISTOPH SCHWENNICKE<br />

Herr Verheugen, der Spitzenkandidat der Sozialdemokraten<br />

im Europäischen Parlament, Martin Schulz,<br />

hat in den letzten Tagen des zurückliegenden Europawahlkampfs<br />

plakatiert: „Nur wenn Sie SPD wählen,<br />

kann ein Deutscher Kommissionspräsident werden.“<br />

War das nicht ein Rückfall in nationale Denkmuster,<br />

die Ihre Partei eigentlich überwinden will?<br />

Günter Verheugen: Ich habe diesen Slogan nicht<br />

verstanden. Und da ich etwas von Wahlkämpfen verstehe,<br />

war ich auch nicht überzeugt davon, dass er<br />

überhaupt wirkt. Ganz davon abgesehen, dass so ein<br />

Spruch bei unseren Nachbarn eher ungute Gefühle<br />

weckt. Die Frage, wer Kommissionspräsident wird,<br />

kann nicht davon abhängig gemacht werden, woher<br />

jemand kommt. Sondern ausschließlich von der Qualifikation<br />

und der Überzeugungskraft.<br />

Wilfried Scharnagl: Wenn die CSU solch einen<br />

Slogan plakatiert hätte, hätte es eine Riesenkampagne<br />

gegen uns gegeben. Außerdem wählt kein Mensch einen<br />

Spitzenkandidaten, den er nicht kennt. <strong>Das</strong> zeigt<br />

auch die ganze Absurdität dieses Projekts. Bei der<br />

Europawahl wurden in Wahrheit nationale Wahlen<br />

abgehalten.<br />

Verheugen: Trotzdem wurde durch die Kür von<br />

Spitzenkandidaten der Finger in eine Wunde gelegt.<br />

Nämlich das Gefühl einer Mehrheit der Bürgerinnen<br />

und Bürger in Europa, dass sie nicht darüber mitbestimmen<br />

können, was in Brüssel passiert. Deshalb<br />

sollte auch die Frage der Spitzenkandidaten solide<br />

verankert werden, anstatt es dem taktischen Kalkül<br />

der Parteien zu überlassen. Jedenfalls bin ich überzeugt<br />

davon, dass es keinen Kommissionspräsidenten<br />

mehr geben wird, der vorher nicht zum Spitzenkandidaten<br />

seiner Parteienfamilie bestimmt wurde. Irgendwann<br />

wird das auch in den entsprechenden Verträgen<br />

so stehen. Und dann bekommen wir vielleicht so etwas<br />

wie eine echte parlamentarische Demokratie auf<br />

europäischer Ebene.<br />

Scharnagl: Da bin ich völlig anderer Meinung.<br />

Eine echte parlamentarische Demokratie würde nämlich<br />

bedeuten, dass das Europäische Parlament entscheidende<br />

demokratische Qualität hat. Denn dann<br />

müsste auch der Grundsatz „one man, one vote“ gelten.<br />

Verheugen: Mit diesem Argument spricht ja auch<br />

das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Parlament<br />

die demokratische Qualifikation ab. Ich halte<br />

diese Begründung für himmelschreiend. Wenn man<br />

sich Demokratie nur vorstellen kann in der egalitären<br />

Form, wie sie sich in den Nationalstaaten durchgesetzt<br />

hat, kann das auf supranationaler Ebene nicht funktionieren.<br />

Denn natürlich müssen auch kleine Nationen<br />

so vertreten sein, dass sie wahrgenommen werden.<br />

Was würde denn „one man, one vote“ konkret für die<br />

Sitzverteilung im Europäischen Parlament bedeuten?<br />

Scharnagl: Entweder, dass Sie das Parlament so<br />

aufblähen, dass auch kleine Länder mindestens einen<br />

Sitz bekommen. Andernfalls eben, dass kleine Länder<br />

Allianzen schließen müssen, um dort vertreten zu sein.<br />

Oder dass man sich am amerikanischen Beispiel mit<br />

Senat und Repräsentantenhaus orientiert.<br />

„Schleichende Entdemokratisierung“: Wilfried Scharnagl<br />

kritisiert den europäischen Einigungsprozess<br />

26<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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