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Ritter gelesen – das Beispiel des Mandarins.<br />
Einer sagt: „Was würdest du<br />
tun, wenn du in China mit einem Gedanken<br />
einen Mandarin töten und dadurch<br />
selbst unvorstellbar reich werden<br />
könntest? Würdest du es machen?“<br />
<strong>Das</strong> beschreibt das moralische Dilemma<br />
im 19. Jahrhundert – praktisch erdacht,<br />
geradezu paradigmatisch. Damals<br />
war das nur ein Gedankenspiel. Heute<br />
ist es Realität. Wir handeln so. Wir töten<br />
durch unsere Gedanken immerzu<br />
irgendwelche Leute auf der Welt und<br />
werden dadurch unvorstellbar reich.<br />
Auf die Frage, die im 19. Jahrhundert<br />
gestellt wurde, geben wir die Antwort:<br />
„Ja, wir machen das.“<br />
Sie sind mir ja eine Moraltante. Sie<br />
sind die größte Moraltante, die mir untergekommen<br />
ist! Was Sie hier entwickeln,<br />
ist reine moralische Empörung. Ich kann<br />
mich nur wiederholen: Die Antwort hat<br />
Kant mit dem kategorischen Imperativ<br />
gegeben: Handle stets nach der Maxime,<br />
die zugleich als Prinzip einer allgemeinen<br />
Gesetzgebung gelten kann. Dieser<br />
Imperativ steckt im Menschen, weil der<br />
Mensch sowohl ein Ich-Mensch als auch<br />
ein Wir-Mensch ist.<br />
Ja, aber die Leute sehen doch, dass es so<br />
nicht läuft. Sie können mit einem Gedanken<br />
den Mandarin töten, aber der<br />
Mandarin kann sie nicht töten. Sie tun<br />
es, weil sie es können.<br />
Längst kann der Mandarin töten. Er<br />
tötet Tausende. Jedes Jahr tötet der moderne<br />
Mandarin in seinem Reich Tausende.<br />
Die Menschen, die dem Mandarin<br />
nicht passen, werden aus der Gesellschaft<br />
entfernt und kaputt gemacht, körperlich<br />
und seelisch. So ist es seit dem Mandarin<br />
Mao. China ist eine Diktatur – wir sind<br />
gegen diese Diktatur. Natürlich: Auch<br />
die Mächte des Westens begehen aus Interessen<br />
Böses … <strong>Das</strong> ist skandalös. In<br />
der Demokratie gibt es täglich Skandale,<br />
weil wir eine freie Gesellschaft sind. In<br />
der Diktatur gibt es keine Skandale, es<br />
sei denn, den einen einzigen: die Diktatur<br />
selbst.<br />
Hier veröffentlichen wir Auszüge aus Frank<br />
A. Meyers Buch „Es wird eine Rebellion geben.<br />
Was unsere Demokratie jetzt braucht.<br />
Gespräche mit Jakob Augstein“, das im<br />
September im Verlag Orell Füssli erscheint<br />
„DIE LIEBE, DAS WUNDER“<br />
Sie birgt das Glück, ist die Hoffnung, geht immer<br />
nach draußen. Gedanken über ein großes Gefühl<br />
Jakob Augstein: Sie haben gesagt,<br />
dass Sie über die Liebe sprechen<br />
wollen. Warum?<br />
Frank A. Meyer: Wir sprechen über<br />
das Leben. Kann man über das Leben<br />
reden, ohne über die Liebe zu reden?<br />
<strong>Das</strong> kann man schon.<br />
Ich kann es nicht. Ich glaube, man<br />
kann es grundsätzlich nicht. Es gibt<br />
keinen großen Roman, keine große<br />
Erzählung, die vom Leben des Menschen<br />
handelt, ohne von der Liebe<br />
zu handeln. Wirklich leben heißt:<br />
Man liebt und man scheitert im<br />
Lieben. Die Liebe birgt das Glück. Die<br />
Liebe, das ist der Raum, den wir dem<br />
geliebten Menschen öffnen: „Bitte<br />
tritt ein, ich liebe Dich.“ Die Liebe ist<br />
das Wunder, das sich in jedem Leben<br />
ereignet – hoffentlich. Ja, es ist die<br />
Hoffnung an sich.<br />
Die Liebe, von der Sie sprechen – ist<br />
das eine Liebe für andere Menschen<br />
oder auch für Ideen oder Dinge?<br />
Ich liebe keine Ideen. Ich liebe kein<br />
Vaterland. Ich liebe keine Dinge. Ich<br />
liebe nur Menschen.<br />
Sind Sie ein Macho?<br />
Aber sicher. Sie doch auch.<br />
Ich habe Sie gefragt.<br />
Ich bin ein Mann – also bin ich ein<br />
Macho. Glauben Sie etwa, meine<br />
Generation habe den Macho schon<br />
überwunden? Es wird lange dauern,<br />
bis sich unsere Erkenntnis, dass Männerherrschaft<br />
das Allerdümmste ist,<br />
auch genetisch umgesetzt hat. <strong>Das</strong><br />
soll keine Entschuldigung sein. Wir<br />
sind ja dabei, unser Stammhirn mit<br />
dem Verstand zu steuern, jedenfalls<br />
wir zwei, hoffe ich. Aber einfach ist<br />
das nicht.<br />
Fällt Ihnen das schwer?<br />
Ihnen nicht?<br />
Ich bin hier, um Sie zu befragen.<br />
Immer wenn es persönlich wird, weichen<br />
Sie aus. Warum eigentlich?<br />
Weil ich ein zurückhaltender Norddeutscher<br />
bin. <strong>Das</strong> liegt bei uns in<br />
der Kultur.<br />
Und ich bin Süditaliener?<br />
Sie kommen aus der Schweiz.<br />
Biel ist von Hamburg bestimmt<br />
700 oder 800 Kilometer entfernt.<br />
Es könnte auch einfach so sein,<br />
dass Sie in dieser Hinsicht scheu<br />
sind.<br />
Ja, das bin ich auch.<br />
Wie sehen Sie nun die Liebe?<br />
Ich glaube, Liebe ist alles, was<br />
über einen selbst hinausgeht.<br />
Man fängt in dem Augenblick zu<br />
lieben an, in dem man sich selbst<br />
nicht mehr als Zentrum seiner<br />
Überlegungen begreift. Liebe ist<br />
immer etwas, das nach draußen<br />
geht. Von drinnen nach draußen.<br />
<strong>Das</strong> ist eine sehr schöne Formulierung.<br />
Die merke ich mir. Liebe<br />
ist letztlich ein Transzendieren.<br />
Da gibt es für mich auch eine<br />
religiöse Komponente.<br />
Ja, so sehe ich das auch. Deshalb<br />
finde ich, dass das Christentum<br />
eine ganz große zivilisatorische<br />
Errungenschaft ist. Als Religion<br />
der Liebe hat es die Zivilisation<br />
unglaublich vorangebracht.<br />
Es ist eine Religion, die den Menschen<br />
befreit.<br />
Es ist eine sehr romantische Religion<br />
im Vergleich zum Beispiel<br />
zur Gesellschaftsreligion in der<br />
chinesischen Kultur, wo es mehr<br />
darum geht, wie die Leute gut<br />
miteinander zurechtkommen.<br />
In der Religion der Liebe geht es<br />
immer um das Verhältnis vom<br />
Ich zu Gott. In der chinesischen<br />
Kultur geht es immer um das<br />
Ich und die anderen. Der Christ<br />
muss Gott in sich selbst und<br />
in seinen Mitmenschen lieben.<br />
Die Idee, dass es ein Innen<br />
und ein Außen gibt, habe ich<br />
erst verstanden, als ich Kinder<br />
hatte. Vorher habe ich keinen<br />
Unterschied zwischen einer<br />
Innen- und einer Außenwelt<br />
gemacht.<br />
Die Liebe ist das intime Hinausgehen<br />
des Menschen über sich<br />
selbst. <strong>Das</strong> Bürgersein ist das gesellschaftliche<br />
Hinausgehen des<br />
Menschen über sich selbst.<br />
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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014