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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

Herr Scharnagl, Sie zitieren den Philosophen Friedrich<br />

August von Hayek mit den Worten, wenn man die Freiheit<br />

abschaffen wolle, müsse man ein großes Reich<br />

schaffen. Es seien die großen zentralistischen Machtund<br />

Einheitsstaaten, die in Tod und Verderben führten.<br />

Ist die EU tatsächlich solch ein Höllenfeuer?<br />

Scharnagl: Für mich schon. Weil der Reichtum Europas<br />

in seiner Vielfalt niedergebügelt wird.<br />

Verheugen: Mit aktiver Beteiligung aller Mitgliedstaaten!<br />

Man kann der EU vieles vorwerfen, aber ganz<br />

sicher nicht, dass sie einen imperialen Anspruch erhebt.<br />

Sie ist ein auf Freiwilligkeit und gemeinsamen Werten<br />

gegründeter Verband ohne jeden Herrschafts- und<br />

Expansionsanspruch. Der Vergleich mit Hayek ist da<br />

wirklich irreführend. Ich glaube nicht, dass die europäische<br />

Integration ein Risiko für die Freiheit bedeutet.<br />

Zumindest, wenn wir uns nicht selbst in ein immer<br />

engeres Korsett an Vorschriften und Regeln zwängen.<br />

Ist die EU als Staatsgebilde überdehnt?<br />

Scharnagl: Die jahrelange Erweiterungspolitik<br />

war ein Irrweg. Es haben doch vor sieben Jahren alle<br />

gewusst, dass weder Bulgarien noch Rumänien reif für<br />

eine Aufnahme ist. Man hat Milliarden über Milliarden<br />

Euro in diese Länder investiert. Und sie bleiben<br />

doch ein großes ungelöstes Problem innerhalb der EU.<br />

Verheugen: Rumänien und Bulgarien sind zum<br />

Beitritt eingeladen worden vor dem historischen Hintergrund<br />

des Kosovokonflikts. <strong>Das</strong> war eine geopolitische<br />

Entscheidung. Und die geopolitischen Erwartungen<br />

haben Rumänien und Bulgarien erfüllt. Ohne sie<br />

hätten wir ein riesiges Problem.<br />

Scharnagl: Mit ihnen erst recht. Es gibt aus diesen<br />

Ländern massiven Zuzug in die deutschen Sozialsysteme.<br />

Und Korruption und Kriminalität sind leider<br />

auch mit diesen beiden Ländern verbunden.<br />

Verheugen: Also, wenn Sie mich fragen, welches<br />

Land das größte Korruptionsproblem in Europa hat,<br />

dann fallen mir nicht Rumänien und Bulgarien ein. Natürlich<br />

hat jeder gewusst, dass diese Länder gewaltige<br />

Defizite haben. Die Frage ist doch aber: Lässt sich demokratische<br />

Reife besser fördern, wenn sie drin oder<br />

wenn sie draußen sind? Die übereinstimmende Meinung<br />

war: besser, wenn sie drin sind.<br />

Schottland, Katalonien, Ungarn – sind die aufkommenden<br />

Fliehkräfte des Nationalen unmittelbare<br />

Folge der Erweiterung?<br />

WILFRIED SCHARNAGL<br />

Der 74 Jahre alte Journalist<br />

und Buchautor war enger<br />

Weggefähr te von Franz Josef<br />

Strauß und von 1977 bis<br />

2001 Chefredakteur der CSU-<br />

Parteizeitung Bayernkurier<br />

GÜNTER VERHEUGEN<br />

Der 70 Jahre alte Sozialdemokrat<br />

war von 1999 bis 2009 Mitglied der<br />

EU-Kommission und dort zunächst<br />

für die Erweiterung zuständig, später<br />

für Industrie und Unternehmenspolitik.<br />

Er leitet heute eine Beratungsfirma<br />

Verheugen: Die Fälle liegen unterschiedlich. Aber:<br />

Ja, dieser epochale Wandel – weg von der Integration<br />

als westeuropäisches Projekt hin zu einem gesamteuropäischen<br />

Projekt mit Völkern, die jahrzehntelang ihrer<br />

nationalen Souveränität beraubt wurden – weckt in<br />

diesen Ländern einen Nachholbedarf. Mir war das immer<br />

klar, und ich finde auch nicht, dass das ein großes<br />

Problem ist. Aber dieses nationale Selbstbewusstsein<br />

darf man bitte nicht verwechseln mit Nationalismus.<br />

Polen zeigt vorbildlich, dass europäische Orientierung<br />

und ein starkes <strong>Nationalgefühl</strong> sehr gut vereinbar sind.<br />

Scharnagl: Ein Narr, der nicht für die Einigung Europas<br />

ist. Aber genauso ein Narr, der meint, wir müssen<br />

die Nationalstaaten auslöschen, damit Europa funktioniert.<br />

Es ist doch grotesk: Wenn sich die Deutschen<br />

freuen über die Fußballweltmeisterschaft, dann kommen<br />

sofort die Volkserzieher und sagen: <strong>Das</strong> geht zu<br />

weit! Gerade bei den Grünen. Wo früher stand: „Atomkraft,<br />

nein danke!“, steht jetzt: „Patriotismus, nein<br />

danke!“ Wenn einer der Grünen-Häuptlinge, Anton<br />

Hofreiter, im Streit über die selbstherrliche Politik<br />

der EZB deutsche Politiker dazu auffordert, sich die<br />

Deutschlandfarben aus dem Gesicht zu wischen! <strong>Das</strong><br />

wäre in Polen undenkbar! Überall wäre das undenkbar!<br />

Schottland stimmt am 18. September über seine Unabhängigkeit<br />

ab. Was wären die Folgen eines Erfolgs<br />

der Nationalisten in Edinburgh?<br />

Scharnagl: Wenn sich Schottland wuchtig lossagt,<br />

dann würde da etwas ins Rutschen kommen. Dann würden<br />

es auch andere versuchen, dann würden sich auch<br />

die Katalanen nicht mehr aufhalten lassen. <strong>Das</strong> Thema<br />

wäre in ganz großem Stil auf der europäischen Agenda.<br />

Verheugen: Vor einem Jahr hätte ich gesagt: Da brauchen<br />

wir gar nicht drüber zu reden, das wird nicht passieren.<br />

Aber dank der Ungeschicklichkeiten der britischen<br />

Regierung muss man heute sagen: Es wird mit Sicherheit<br />

knapp. <strong>Das</strong>selbe gilt auch für das Referendum der Briten<br />

über den Verbleib in der EU im Jahr 2017. Da halte<br />

ich den Ausgang sogar für noch ungewisser. Wenn die<br />

Schotten für ihre Unabhängigkeit stimmen, dann wird<br />

das zu einem tiefen Grundsatzkonflikt innerhalb der EU<br />

führen. Denn die Länder, die dann befürchten müssen,<br />

dass ihnen ihre Regionen ebenfalls um die Ohren fliegen,<br />

werden strikt dagegen sein, dass man diesen schottischen<br />

Separatismus mit einer Aufnahme in die EU belohnt.<br />

Also: In den nächsten Monaten entscheidet sich<br />

auf der britischen Insel Grundsätzliches für Europa.<br />

Fotos: Antje Berghäuser für <strong>Cicero</strong><br />

28<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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