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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

DIE ALTEN<br />

SÜNDEN SIND<br />

VERJÄHRT<br />

Wie ich auf Umwegen<br />

und zu meinem eigenen<br />

Erstaunen mit dem<br />

heiklen Begriff der<br />

Nation endlich Frieden<br />

schloss: Erfahrungen<br />

eines deutschen Historikers,<br />

der seit 18 Jahren<br />

im Ausland studiert,<br />

lehrt und forscht<br />

Von THOMAS WEBER<br />

Als ich im Herbst 1996 schwer bepackt einen<br />

Zug nach England bestieg, um in Oxford<br />

mein Studium der Geschichte fortzusetzen,<br />

hätte ich kaum geglaubt, dass mir zehn Jahre<br />

später eine 1918 in Polen geborene Jüdin mein erstes<br />

Deutschland-T-Shirt schenken würde. Schon gar nicht<br />

hätte ich mir vorstellen können, dass ich 18 Jahre später,<br />

im Jahr 2014, Verständnis für Nationalisten bei einem<br />

Unabhängigkeitsreferendum haben würde.<br />

Wie alle guten Deutschen bin ich in Oxford sogleich<br />

der Oxford University European Society beigetreten<br />

– und nicht der German Society der Universität.<br />

Ich fand zwar schon damals das Gebaren von Deutschen<br />

in Oxford albern, die auf keinen Fall als Deutsche<br />

wahrgenommen werden wollten, dadurch aber<br />

genau das Gegenteil erreichten. In deutsche Uniform<br />

gekleidet – Jack-Wolfskin-Jacke und Sandalen mit Socken<br />

–, ereiferten sie sich mit starkem deutschen Akzent<br />

pausenlos darüber, wie teuer hier doch alles sei.<br />

Dennoch dauerte es eine Zeit, bis ich merkte, dass<br />

ich mit der European Society der wahren Oxford University<br />

German Society beigetreten war. Denn die<br />

meisten Griechen, Polen oder Franzosen waren der<br />

Greek, Polish oder French Society und nur gelegentlich<br />

der European Society beigetreten. Dennoch waren<br />

sie genauso proeuropäisch wie die Deutschen. Sie<br />

verstanden sich auch gut mit uns, konnten nur oft nicht<br />

verstehen, warum so viele junge Deutsche unbedingt<br />

nur europäisch, aber nicht auch deutsch sein wollten.<br />

Es war eigenartig: Trotz der Millionen von Deutschen<br />

ermordeten Polen des Zweiten Weltkriegs hatten<br />

meine polnischen Freunde in Oxford mit Deutschland<br />

ein viel geringeres Problem als manche deutsche<br />

Kommilitonen. Sie griffen Radosław Sikorski vor, der<br />

ein Jahrzehnt vor mir in Oxford studiert hatte. Im Jahr<br />

2011 sollte Sikorski, mittlerweile zum polnischen Außenminister<br />

avanciert, sagen, dass er heute deutsche<br />

Macht weniger fürchte als deutsche Untätigkeit.<br />

Als ich nach sechs Jahren England verließ, um<br />

meine erste Dozentenstelle in Glasgow anzutreten,<br />

war ich abermals gezwungen, meinen Nationen- und<br />

Nationalismusbegriff zu überdenken. Eine Zeit lang<br />

lief ich täglich auf dem Weg zu meinem Büro an einem<br />

Wahlplakat der schottischen Nationalisten vorbei. Es<br />

feierte schottische Nationalisten aller Hautfarben. In<br />

Deutschland hätte das gleiche Poster Werbung für einen<br />

Eine-Welt-Laden gemacht.<br />

Ferner entpuppte sich mein Glasgower Kollege<br />

und Freund Conan Fischer als glühender schottischer<br />

Nationalist, der eng mit der Führung der schottischen<br />

Nationalisten vernetzt ist. Als vielleicht wichtigster<br />

Experte für den Aufstieg der deutschen Nationalsozialisten<br />

kennt der gebürtige Neuseeländer wie kein<br />

Zweiter die dunklen Seiten des Nationalismus. Dennoch<br />

erzählte Fischer mir begeistert von einem Nationalismus,<br />

der gleichermaßen nationale Identität<br />

und Kultur auf der einen und europäische Integration<br />

auf der anderen Seite bejaht. Zu meinem Erstaunen<br />

stellte Fischer mir seine taufrischen Forschungen vor.<br />

22<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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