09.09.2014 Aufrufe

Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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WELTBÜHNE<br />

Report<br />

Zwieback zu essen, dafür aber in einer Großmacht zu<br />

leben“, fasst Subow das Ergebnis zusammen.<br />

Die trotzige Reaktion vieler Russen auf die westlichen<br />

Sanktionen und der kaum spürbare Protest gegen<br />

die im August erlassenen Einfuhrverbote für westliche<br />

Lebensmittel beweisen das. „Wir sind bereit, den<br />

Gürtel enger zu schnallen. Aber wir<br />

wollen uns nicht mehr sagen lassen,<br />

was wir zu tun und zu lassen haben“,<br />

sagt etwa ein 60 Jahre alter Ingenieur<br />

aus einer Kleinstadt bei Moskau.<br />

Subow weist allerdings auf einen<br />

wichtigen Unterschied zu den Deutschen<br />

der dreißiger Jahre hin: Die<br />

Russen fürchten den Krieg. Lewada<br />

zufolge glauben zwei Drittel der Befragten,<br />

dass der Konflikt im Osten<br />

der Ukraine in einen Krieg zwischen<br />

Russland und der Ukraine münden<br />

könnte. Die Hälfte glaubt sogar an<br />

einen dritten Weltkrieg. Zwar waren<br />

noch gut die Hälfte der Russen<br />

Ende Juli bereit, ihre Führung in einem<br />

Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen.<br />

Doch die Eskalation des<br />

Konflikts im Osten der Ukraine, die<br />

Bilder von zerstörten Häusern und getöteten Zivilisten,<br />

haben auf viele ernüchternd gewirkt. Im März, als die<br />

Kriegsgefahr noch sehr abstrakt erschien, waren noch<br />

drei Viertel der Russen auf Kriegskurs.<br />

Die Dämonisierung des Gegners kennt derweil<br />

keine Grenzen. Russische Medien schlachten jeden<br />

Fehler der Ukrainer aus. Es begann, als das ukrainische<br />

Parlament drei Tage nach dem Sieg der Maidan-<br />

Bewegung den Sonderstatus der russischen Sprache abschaffte.<br />

„Und das sollen keine Faschisten sein?“, fragt<br />

mich ein Freund aus St. Petersburg. <strong>Das</strong>s Übergangspräsident<br />

Alexander Turtschinow unter westlichem Druck<br />

wenig später sein Veto gegen die Entscheidung einlegte,<br />

ist in Russland nie angekommen.<br />

LETZTE ZWEIFEL BESEITIGTE das „Massaker von<br />

Odessa“, wie es in Russland genannt wird: Am 2. Mai<br />

kamen dort bei Unruhen 48 Menschen ums Leben. Die<br />

meisten Opfer waren prorussische Aktivisten, die im<br />

brennenden Gewerkschaftshaus eingeschlossen wurden.<br />

Während die Katastrophe in westlichen Medien<br />

nur am Rande thematisiert wurde, hat sie in den Köpfen<br />

der Russen tiefe Spuren hinterlassen. Grund sind<br />

auch die erschütternden Bilder, die das Fernsehen<br />

zeigte und die in den sozialen Netzwerken hunderttausendfach<br />

geteilt wurden: Ein Mob johlender Nationalisten,<br />

die Molotowcocktails auf das Gewerkschaftshaus<br />

werfen, Menschen, die sich in Panik aus den oberen<br />

Stockwerken stürzen, verkohlte Körper.<br />

Bilder dieser Art dominieren die russische Berichterstattung<br />

über die Ukraine. Von den Kämpfen<br />

der ukrainischen Armee mit den Separatisten in der<br />

Ostukraine bekommt der russische Fernsehzuschauer<br />

vor allem getötete Zivilisten zu sehen, in den Abendnachrichten<br />

hört er die Hilferufe von Menschen, deren<br />

Wohnungen von Ukrainern zerbombt wurden. <strong>Das</strong><br />

wirkt. Es wirkt umso mehr, als die Menschen vor der<br />

Kamera russisch sprechen und<br />

vor Häusern stehen, die so auch<br />

in jeder russischen Stadt zu finden<br />

sind. Viele Russen haben zudem<br />

Bekannte oder Verwandte<br />

in der Ukraine, die per Telefon,<br />

in E-Mails und in den russischsprachigen<br />

sozialen Netzwerken<br />

von ihrem Leben im Kriegszustand<br />

berichten. Für die Deutschen<br />

sind, auch wenn es zynisch<br />

klingen mag, die Opfer<br />

von Krieg und Vertreibung in<br />

Luhansk zwar bemitleidenswert,<br />

aber fern und fremd.<br />

So kommt es, dass die Vorstellungen<br />

von den Ereignissen<br />

in der Ukraine sich so stark unterscheiden,<br />

dass wir praktisch<br />

nicht mehr darüber sprechen<br />

können. Bei „Maidan“ denke ich an die friedlichen<br />

Demonstrationen von Hunderttausenden gegen einen<br />

korrupten Präsidenten, mit denen alles begann. Russen<br />

hingegen denken an bewaffnete Faschisten, die<br />

unschuldige Polizisten mit Molotowcocktails bewerfen.<br />

Beim Stichwort „Slawjansk“ erzählen die Russen<br />

von angeblichen Napalmangriffen auf friedliche Zivilisten,<br />

und ich erzähle vom russischen Ex-Geheimdienstler<br />

Igor Strelkow, der die Stadt in seine Gewalt<br />

brachte und damit den bewaffneten Konflikt erst auslöste.<br />

Strelkow? Die meisten meiner Bekannten blicken<br />

mich fragend an, wenn ich den Namen nenne. Über<br />

die wirklichen Hintergründe des Konflikts erfährt der<br />

russische Zuschauer wenig. Die Gegner der ukrainischen<br />

„Strafbataillone“ hießen im russischen Fernsehen<br />

lange Zeit „friedliche Befürworter der Föderalisierung“,<br />

dabei waren es von Anfang an bewaffnete<br />

Freischärler. Auch über die Unterstützung mit Waffen<br />

und Kriegsgerät über die russische Grenze erfahren<br />

die Russen nichts.<br />

Wohlmeinende Freunde und Verwandte sagen<br />

meist irgendwann versöhnlich: Die Wahrheit liegt wohl<br />

in der Mitte. Aber als Journalist, der alles mit eigenen<br />

Augen gesehen hat, muss ich ihnen entgegnen: Nein,<br />

dort liegt sie nicht.<br />

MORITZ GATHMANN bereiste Russland<br />

zum ersten Mal 1994 während eines<br />

Schüleraustauschs. Seit zwölf Jahren berichtet<br />

er als Journalist aus der Region. Er ist mit<br />

einer Russin verheiratet<br />

Stolz ragen<br />

die Kuppeln<br />

der Basilius-<br />

Kathedrale<br />

über Moskau.<br />

<strong>Das</strong> Gefühl<br />

von Stärke<br />

gibt Putin mit<br />

seiner Politik<br />

nun seiner<br />

Bevölkerung<br />

Fotos: Inger Vandyke/VWPics/Redux/Laif, Privat (Autor)<br />

80<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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