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WELTBÜHNE<br />
Report<br />
Zwieback zu essen, dafür aber in einer Großmacht zu<br />
leben“, fasst Subow das Ergebnis zusammen.<br />
Die trotzige Reaktion vieler Russen auf die westlichen<br />
Sanktionen und der kaum spürbare Protest gegen<br />
die im August erlassenen Einfuhrverbote für westliche<br />
Lebensmittel beweisen das. „Wir sind bereit, den<br />
Gürtel enger zu schnallen. Aber wir<br />
wollen uns nicht mehr sagen lassen,<br />
was wir zu tun und zu lassen haben“,<br />
sagt etwa ein 60 Jahre alter Ingenieur<br />
aus einer Kleinstadt bei Moskau.<br />
Subow weist allerdings auf einen<br />
wichtigen Unterschied zu den Deutschen<br />
der dreißiger Jahre hin: Die<br />
Russen fürchten den Krieg. Lewada<br />
zufolge glauben zwei Drittel der Befragten,<br />
dass der Konflikt im Osten<br />
der Ukraine in einen Krieg zwischen<br />
Russland und der Ukraine münden<br />
könnte. Die Hälfte glaubt sogar an<br />
einen dritten Weltkrieg. Zwar waren<br />
noch gut die Hälfte der Russen<br />
Ende Juli bereit, ihre Führung in einem<br />
Krieg gegen die Ukraine zu unterstützen.<br />
Doch die Eskalation des<br />
Konflikts im Osten der Ukraine, die<br />
Bilder von zerstörten Häusern und getöteten Zivilisten,<br />
haben auf viele ernüchternd gewirkt. Im März, als die<br />
Kriegsgefahr noch sehr abstrakt erschien, waren noch<br />
drei Viertel der Russen auf Kriegskurs.<br />
Die Dämonisierung des Gegners kennt derweil<br />
keine Grenzen. Russische Medien schlachten jeden<br />
Fehler der Ukrainer aus. Es begann, als das ukrainische<br />
Parlament drei Tage nach dem Sieg der Maidan-<br />
Bewegung den Sonderstatus der russischen Sprache abschaffte.<br />
„Und das sollen keine Faschisten sein?“, fragt<br />
mich ein Freund aus St. Petersburg. <strong>Das</strong>s Übergangspräsident<br />
Alexander Turtschinow unter westlichem Druck<br />
wenig später sein Veto gegen die Entscheidung einlegte,<br />
ist in Russland nie angekommen.<br />
LETZTE ZWEIFEL BESEITIGTE das „Massaker von<br />
Odessa“, wie es in Russland genannt wird: Am 2. Mai<br />
kamen dort bei Unruhen 48 Menschen ums Leben. Die<br />
meisten Opfer waren prorussische Aktivisten, die im<br />
brennenden Gewerkschaftshaus eingeschlossen wurden.<br />
Während die Katastrophe in westlichen Medien<br />
nur am Rande thematisiert wurde, hat sie in den Köpfen<br />
der Russen tiefe Spuren hinterlassen. Grund sind<br />
auch die erschütternden Bilder, die das Fernsehen<br />
zeigte und die in den sozialen Netzwerken hunderttausendfach<br />
geteilt wurden: Ein Mob johlender Nationalisten,<br />
die Molotowcocktails auf das Gewerkschaftshaus<br />
werfen, Menschen, die sich in Panik aus den oberen<br />
Stockwerken stürzen, verkohlte Körper.<br />
Bilder dieser Art dominieren die russische Berichterstattung<br />
über die Ukraine. Von den Kämpfen<br />
der ukrainischen Armee mit den Separatisten in der<br />
Ostukraine bekommt der russische Fernsehzuschauer<br />
vor allem getötete Zivilisten zu sehen, in den Abendnachrichten<br />
hört er die Hilferufe von Menschen, deren<br />
Wohnungen von Ukrainern zerbombt wurden. <strong>Das</strong><br />
wirkt. Es wirkt umso mehr, als die Menschen vor der<br />
Kamera russisch sprechen und<br />
vor Häusern stehen, die so auch<br />
in jeder russischen Stadt zu finden<br />
sind. Viele Russen haben zudem<br />
Bekannte oder Verwandte<br />
in der Ukraine, die per Telefon,<br />
in E-Mails und in den russischsprachigen<br />
sozialen Netzwerken<br />
von ihrem Leben im Kriegszustand<br />
berichten. Für die Deutschen<br />
sind, auch wenn es zynisch<br />
klingen mag, die Opfer<br />
von Krieg und Vertreibung in<br />
Luhansk zwar bemitleidenswert,<br />
aber fern und fremd.<br />
So kommt es, dass die Vorstellungen<br />
von den Ereignissen<br />
in der Ukraine sich so stark unterscheiden,<br />
dass wir praktisch<br />
nicht mehr darüber sprechen<br />
können. Bei „Maidan“ denke ich an die friedlichen<br />
Demonstrationen von Hunderttausenden gegen einen<br />
korrupten Präsidenten, mit denen alles begann. Russen<br />
hingegen denken an bewaffnete Faschisten, die<br />
unschuldige Polizisten mit Molotowcocktails bewerfen.<br />
Beim Stichwort „Slawjansk“ erzählen die Russen<br />
von angeblichen Napalmangriffen auf friedliche Zivilisten,<br />
und ich erzähle vom russischen Ex-Geheimdienstler<br />
Igor Strelkow, der die Stadt in seine Gewalt<br />
brachte und damit den bewaffneten Konflikt erst auslöste.<br />
Strelkow? Die meisten meiner Bekannten blicken<br />
mich fragend an, wenn ich den Namen nenne. Über<br />
die wirklichen Hintergründe des Konflikts erfährt der<br />
russische Zuschauer wenig. Die Gegner der ukrainischen<br />
„Strafbataillone“ hießen im russischen Fernsehen<br />
lange Zeit „friedliche Befürworter der Föderalisierung“,<br />
dabei waren es von Anfang an bewaffnete<br />
Freischärler. Auch über die Unterstützung mit Waffen<br />
und Kriegsgerät über die russische Grenze erfahren<br />
die Russen nichts.<br />
Wohlmeinende Freunde und Verwandte sagen<br />
meist irgendwann versöhnlich: Die Wahrheit liegt wohl<br />
in der Mitte. Aber als Journalist, der alles mit eigenen<br />
Augen gesehen hat, muss ich ihnen entgegnen: Nein,<br />
dort liegt sie nicht.<br />
MORITZ GATHMANN bereiste Russland<br />
zum ersten Mal 1994 während eines<br />
Schüleraustauschs. Seit zwölf Jahren berichtet<br />
er als Journalist aus der Region. Er ist mit<br />
einer Russin verheiratet<br />
Stolz ragen<br />
die Kuppeln<br />
der Basilius-<br />
Kathedrale<br />
über Moskau.<br />
<strong>Das</strong> Gefühl<br />
von Stärke<br />
gibt Putin mit<br />
seiner Politik<br />
nun seiner<br />
Bevölkerung<br />
Fotos: Inger Vandyke/VWPics/Redux/Laif, Privat (Autor)<br />
80<br />
<strong>Cicero</strong> – 9. 2014