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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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Foto: Ali Ghandtschi/Photoselection<br />

T.C.<br />

Die letzten 24 Stunden<br />

Schreiben, weiter<br />

schreiben,<br />

bis der Wald um<br />

mich schweigt<br />

BOYLE<br />

Tom Coraghessan Boyle<br />

Der aus New York stammende, in<br />

Kalifornien lebende Schriftsteller<br />

schrieb zahlreiche Kurzgeschichten<br />

und Romane, zuletzt „San Miguel“.<br />

Als später Beatnik schürft er in der<br />

Seele der amerikanischen Nation<br />

Eigentlich sind 24 Stunden eine<br />

Zeit, in der man so ziemlich alles<br />

und nichts erledigen kann.<br />

Vielleicht ist es somit keine<br />

schlechte Idee, einfach im Bett<br />

liegen zu bleiben und sich noch ein wenig<br />

auszuruhen, bevor das ewige Ende<br />

naht. Denn wozu noch sich anstrengen,<br />

wozu noch Blumen gießen, Versicherungen<br />

abschließen und das Zeitungsabonnement<br />

kündigen, wenn sowieso bald alles<br />

vorbei sein wird? Ebenso wenig bin<br />

ich der geeignete Typ für letzte Worte<br />

an Freunde und Familie. Wahrscheinlich<br />

werde ich mich deshalb einfach aus dem<br />

Staub machen und ganz allein in die Wälder<br />

fahren.<br />

Auf dem Weg dahin mache ich noch<br />

kurz auf dem Friedhof von Santa Barbara<br />

Halt. Es ist kein trostloser, sondern<br />

ein schöner Ort, nur eine Meile von unserem<br />

Haus entfernt. Bislang habe ich in<br />

diesem Ort kaum mehr als ein störendes<br />

Hindernis auf dem Weg zum Strand gesehen,<br />

weshalb es gewiss nicht schaden<br />

könnte, mich dort schon einmal persönlich<br />

vorzustellen und mich als Bewohner<br />

in spe mit den örtlichen Gepflogenheiten<br />

vertraut zu machen.<br />

Danach fahre ich weiter in die Bergregionen<br />

Kaliforniens. Im Radio laufen<br />

die Beach Boys oder, besser noch, die<br />

Ramones. Erst als ich nach ein paar Stunden<br />

jene Waldhütte erreiche, in die ich<br />

mich sonst gelegentlich für mehrere Wochen<br />

zum Schreiben zurückziehe, wird<br />

mir klar, dass ich nun plötzlich wirklich<br />

allein bin. Es gibt dann nichts mehr, was<br />

mich auf den letzten Metern noch verletzen<br />

oder enttäuschen könnte, denn das<br />

können ja nur Menschen. Und so ist es ein<br />

beruhigendes Gefühl, schließlich nichts<br />

als Tiere um sich herum zu haben, die mir<br />

bei unserer Unterhaltung kurz vor dem<br />

Tod nur noch jene Antworten geben, die<br />

ich hören will.<br />

Natürlich hätte ich auch meine<br />

Schreibmaschine dabei. Früher hatte ich<br />

mir immer fest vorgenommen, 95 Jahre<br />

alt zu werden und nur bis 94 zu schreiben,<br />

um das letzte Jahr dann mit Golfspielen<br />

verbringen zu können. Mittlerweile<br />

würde ich es vorziehen, bis zum<br />

Schluss in die Tasten zu hauen, zu schreiben,<br />

bis ich vom Stuhl kippe. Ich glaube,<br />

dass sich aus dem nahenden Ende die<br />

größtmögliche Inspiration schöpfen lässt.<br />

Dabei sehe ich es bis heute eigentlich gar<br />

nicht ein, warum eines Tages überhaupt<br />

mit alledem Schluss sein soll.<br />

<strong>Das</strong>s bislang offenbar jeder Mensch,<br />

der einmal gelebt hat, auch gestorben ist,<br />

bedeutet doch keineswegs, dass es mir<br />

deshalb genauso ergehen muss. In der katholischen<br />

Mythologie ist die Jungfrau<br />

Maria auch nicht gestorben, sondern hat<br />

ohne Zwischenstopp den direkten Weg<br />

in den Himmel genommen. Nun bin ich<br />

zwar keine Jungfrau mehr, aber ich kann<br />

es zumindest mal versuchen.<br />

Und falls ich doch ganz irdisch und<br />

gewöhnlich in meiner Waldhütte abtreten<br />

sollte, wäre es ganz wunderbar zu<br />

wissen, dass die Person, die mich dort eines<br />

Tages halb verwest finden wird, sich<br />

die Mühe machen würde, meine Aufzeichnungen<br />

bei irgendeinem Verlag einzuwerfen.<br />

Vielleicht würde es nicht schaden,<br />

diese noch zu veröffentlichen, weil<br />

man ja in der Regel vor seinem Tod mehr<br />

zu Papier bringt als danach und es somit<br />

die allerletzten Zeilen sein könnten.<br />

Wirklich große Künstler jedoch machen<br />

auch nach ihrem Ableben weiter:<br />

Jimi Hendrix und Michael Jackson zum<br />

Beispiel produzieren noch immer mindestens<br />

ein Album pro Jahr.<br />

Aufgezeichnet von CLAAS RELOTIUS<br />

137<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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