Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
SALON<br />
Reportage<br />
Dann steht man plötzlich vor dem Hagener<br />
Stadttheater, das inmitten der Tristesse<br />
fast wie ein Tempel in der Wüste<br />
wirkt. 1911 wurde die von engagierten<br />
Bürgern gegründete Spielstätte eröffnet,<br />
das stolze Selbstverständnis als „Bürgertheater“<br />
lebt bis heute fort.<br />
An diesem frühsommerlichen Abend<br />
wird Jules Massenets „Don Quichotte“<br />
gegeben, eine auf dem gleichnamigen<br />
Romanklassiker beruhende Oper aus<br />
dem frühen 20. Jahrhundert – in französischer<br />
Sprache mit deutschen Übertiteln.<br />
Wem die deutsche Kulturlandschaft nicht<br />
vertraut ist, würde kaum glauben, dass so<br />
etwas in einer Stadt wie Hagen möglich<br />
sein kann, noch dazu an einem ganz normalen<br />
Wochentag: Orchester und Sänger<br />
leisten erstklassige Arbeit, die Inszenierung<br />
ist moderat modern, das Bühnenbild<br />
liebevoll bis ins Detail. Trotzdem<br />
sind die Zuschauerreihen allenfalls zu<br />
zwei Dritteln besetzt. Dem Bürgertheater<br />
gehen die Bürger aus.<br />
Norbert Hilchenbach ist seit sieben<br />
Jahren Intendant am Hagener Theater,<br />
einem 280-Mitarbeiter-Betrieb inklusive<br />
Opernensemble, Orchester und Ballett.<br />
In dieser Zeit ist die Stadt um knapp<br />
10 000 Einwohner geschrumpft, Tendenz<br />
weiter fallend. Anfang der achtziger<br />
Jahre lebten noch knapp 220 000 Menschen<br />
in Hagen, heute sind es nur noch<br />
186 000. Der Ausländeranteil ist hoch,<br />
jeder zweite Jugendliche hat einen Migrationshintergrund.<br />
Außerdem sind<br />
die kommunalen Finanzen ein Desaster,<br />
die Stadt ist mit 1,2 Milliarden Euro<br />
verschuldet – als sogenannte Nothaushaltskommune<br />
bekommt sie zwar Hilfen<br />
vom Land Nordrhein-Westfalen, wird<br />
dafür aber bei ihren Ausgaben streng<br />
kontrolliert.<br />
Was das für die schönen Künste bedeutet,<br />
kann man sich denken. Von 2018<br />
an wird das städtische Kulturbudget um<br />
weitere 10 Prozent gekürzt; derzeit liegt<br />
es bei rund 25 Millionen Euro im Jahr, wovon<br />
allein 14,5 Millionen Euro ans Theater<br />
fließen. 10 Prozent weniger für die<br />
städtischen Bühnen, das entspräche einer<br />
jährlichen Einbuße von rund 1,5 Millionen<br />
Euro. „Illusorisch“ nennt Intendant<br />
Hilchenbach die Vorstellung, sein Haus<br />
könne solch einen finanziellen Einschnitt<br />
verkraften. Denn inzwischen seien sämtliche<br />
Einsparpotenziale ausgeschöpft, „und<br />
die Selbstausbeutung ist enorm“. <strong>Das</strong><br />
Durchschnittseinkommen der Mitarbeiter<br />
am Hagener Theater liegt bei monatlich<br />
knapp 2500 Euro brutto.<br />
Aber braucht Hagen überhaupt ein<br />
eigenes Theater? Immerhin liegen Städte<br />
wie Bochum, Essen, Dortmund und eben<br />
Wuppertal in unmittelbarer Reichweite –<br />
und alle verfügen über große Opern- oder<br />
Schauspielbühnen. Norbert Hilchenbach<br />
findet diese Frage „etwas unverschämt“.<br />
Denn „das würde ja bedeuten, dass man<br />
eine bestimmte Zahl von Kilometern<br />
zwischen zwei Städten haben müsste,<br />
um selbst Kunst zu machen“. Außerdem:<br />
„Wenn hier erst mal die Bude zu wäre,<br />
würde die Attraktivität Hagens entscheidend<br />
nachlassen, und das würde auch<br />
die wirtschaftliche Situation weiter verschlechtern.“<br />
So dreht sich die Rechtfertigungsspirale<br />
ständig weiter.<br />
Denn es ist ja eben nicht so, dass das<br />
Publikum dem Hagener Theater die Türen<br />
einrennt. Die Auslastung liegt angeblich<br />
bei 76 Prozent, das ist ein guter<br />
Wert. Aber es wird immer schwieriger,<br />
das Haus zu füllen. Noch in den achtziger<br />
Jahren gab es kaum eine Chance, in Hagen<br />
überhaupt ein Theater-Abo zu ergattern,<br />
in der darauffolgenden Dekade war<br />
das schon nicht mehr so. „Und der Intendant<br />
vor mir hat dann eklatante Schwierigkeiten<br />
bekommen, weil die Abozahlen<br />
runtergingen, aber gleichzeitig eigentlich<br />
kein Publikum für den freien Kartenverkauf<br />
da war“, sagt Hilchenbach. Er selbst<br />
tut alles, um auch jüngere Zuschauer anzulocken,<br />
es gibt Familienkonzerte zur<br />
Fußball-WM, Kinderoper oder moderne<br />
Musiktheaterproduktionen wie „Lola<br />
rennt“. Außerdem spendiert der örtliche<br />
Theaterförderverein Tausenden Schülern<br />
kostenlose Eintrittskarten. Trotzdem<br />
sind nur 35 Prozent der Besucher jünger<br />
als 50 Jahre. Und Migranten fürs Theater<br />
zu gewinnen, das sei ohnehin „ganz,<br />
ganz schwierig“, wie Hilchenbach unumwunden<br />
zugibt.<br />
HAT DAS DEUTSCHE STADTTHEATER unter<br />
solchen Voraussetzungen überhaupt<br />
noch eine Zukunft? Hilchenbach gibt sich<br />
vorsichtig optimistisch: „Ich glaube, dass<br />
wir weiter um unsere Existenz kämpfen<br />
müssen, aber letztlich bestehen bleiben.“<br />
Sein Kollege Enno Schaarwächter<br />
von den Wuppertaler Bühnen ist da<br />
„ Ich glaube,<br />
das System<br />
Stadttheater<br />
krankt in sich,<br />
und das liegt<br />
nicht nur am<br />
mangelnden Geld “<br />
Karl M. Sibelius,<br />
Intendant am „Theater an der Rott“<br />
in Eggenfelden<br />
122<br />
<strong>Cicero</strong> – 9. 2014