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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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TITEL<br />

<strong>Das</strong> <strong>neue</strong> <strong>Nationalgefühl</strong><br />

die Gründung eines Nationalstaats dort zwangsläufig<br />

zur Entstehung nationaler Minderheiten führen musste,<br />

die einen niederen Status bekamen und sich diskriminiert<br />

fühlten. So entstand die Versuchung, auf die daraus<br />

erwachsene politische Instabilität mit „ethnischen<br />

Säuberungen“ zu reagieren. In anderen Fällen wurde<br />

eine „Obernation“ erfunden, unter der die verschiedenen<br />

Ethnien zu einer nationalen Einheit zusammengefasst<br />

werden konnten. In einigen Fällen ging das gut,<br />

wie bei den Deutschen, wo Sachsen, Franken, Bayern,<br />

Schwaben und all die anderen auf den Status einer Nation<br />

verzichteten und sich mit dem des Volksstamms<br />

beschieden; in anderen Fällen führte es zu Spannungen<br />

und Separationsbestrebungen, etwa in Spanien,<br />

wo die Katalanen die Unabhängigkeit anstreben, oder<br />

bei den Briten, wo die Schotten jetzt in einer Abstimmung<br />

entscheiden, ob sie sich von<br />

den Engländern trennen, mit denen<br />

sie seit mehr als drei Jahrhunderten<br />

einen gemeinsamen Staat bilden.<br />

Tschechen und Slowaken haben<br />

sich in den neunziger Jahren<br />

friedlich getrennt, im Unterschied<br />

zu Jugoslawien, wo das zu mehreren<br />

Kriegen führte. Wie es um die<br />

Ukraine als Nationalstaat bestellt<br />

ist, wird sich in den nächsten Monaten<br />

zeigen. <strong>Das</strong> Zusammenbringen<br />

von Staat und Nation ist ein politisch<br />

riskantes Projekt: Wenn es<br />

scheitert, hinterlässt es meist eine<br />

Spur der Verwüstung.<br />

Es waren und sind die Staatenund<br />

Bürgerkriege, die viele in der<br />

Auffassung bestärkt haben, man<br />

solle, ja müsse sich von der Idee der<br />

Nation verabschieden und stattdessen<br />

politische Einheiten bilden, die weniger starke Inklusions-<br />

und Exklusionsmechanismen aufweisen. Je<br />

mehr Kompetenzen von den europäischen Nationalstaaten<br />

auf „Brüssel“ übergehen, desto stärker wird<br />

die EU zu einem solchen Projekt. Nach den Vorstellungen<br />

einiger soll die Nation eine weitgehend auf Folkloreniveau<br />

gestutzte Größe sein, der politisch so gut wie<br />

keine Bedeutung mehr zukommt. Man erhofft sich davon<br />

eine stärkere Integration des EU-Raumes.<br />

Die Ironie der europäischen Integration besteht jedoch<br />

darin, dass man so die Nation gerade nicht loswird:<br />

Die nationalen Selbstständigkeitsbestrebungen<br />

der Katalanen, Schotten, Bretonen und manch anderer<br />

sind nichtintendierte Effekte der EU. Erst die EU hat<br />

die Überzeugung bestärkt, man könne sich vom bisherigen<br />

Staat lossagen, weil die negativen wirtschaftlichen<br />

und sozialen Effekte durch die EU abgefedert<br />

würden. Ohne die Überlebensgarantien der EU wären<br />

die Separationsforderungen Parolen einer kleinen Minderheit<br />

geblieben, politische Folklore eben.<br />

Staaten werden geschaffen, von Politikern,<br />

Bürokraten und Militärs. Nationen dagegen<br />

werden erfunden, und dabei spielen Gelehrte<br />

und Intellektuelle eine entscheidende Rolle.<br />

Sie sorgen für eine gemeinsame Hochsprache, indem<br />

sie deren Wortschatz bereichern und eine Grammatik<br />

ausarbeiten, indem sie die Geschichte der Nation festhalten<br />

und Karten zeichnen, die deren Grenzen zeigen.<br />

So entsteht in Raum und Zeit ein Identifikationsangebot,<br />

das vielen als eine zweite Natur erscheint. <strong>Das</strong> alles<br />

sind jedoch – nach der <strong>neue</strong>ren Forschung – Imaginationen,<br />

also nur Vorstellungen und Erfindungen.<br />

Diese Imaginationen sind allerdings sehr wirksam:<br />

Sie schaffen Ebenen der Zusammenarbeit und Chancen<br />

für Karrieren, die es bis dahin in dieser Breite<br />

und Egalität nicht gegeben hat. <strong>Das</strong> Imaginative wird<br />

zum Realen. Es war (und ist) diese<br />

Erfahrung, die viele Menschen so<br />

eng an die Nation gebunden hat.<br />

Der Nationalstaat<br />

ist auch<br />

so etwas wie<br />

die Rückversicherung<br />

der EU.<br />

Ohne ihn wäre<br />

sie auf Treibsand<br />

gebaut<br />

Sie hat ihnen gegeben, was zuvor<br />

nur getrennt zu haben war: sozialer<br />

Aufstieg und das Gefühl von<br />

Geborgenheit. Mit der Globalisierung<br />

hat sich beides wieder voneinander<br />

getrennt, und es gibt einen<br />

Zwang, sich für das eine oder das<br />

andere zu entscheiden.<br />

Es sind jedoch nicht nur die<br />

Globalisierungsverlierer, die an<br />

der Nation hängen und den Nationalstaat<br />

nicht aufgeben wollen. Der<br />

Nationalstaat ist auch so etwas wie<br />

eine Rückversicherung der EU. <strong>Das</strong><br />

hat sich in der Eurokrise gezeigt.<br />

Als die EU vielen als ein Raum der<br />

Entsolidarisierung erschien, wurde<br />

der Nationalstaat als Raum der Solidarität<br />

wahrgenommen. Diese Wahrnehmung mag zutreffend<br />

oder falsch sein, aber sie wirkt. Eine EU ohne<br />

nationalstaatlichen Unterbau wäre ein in den Treibsand<br />

der Globalisierung gebautes Haus. Es bekäme<br />

bald Risse und fiele auseinander. Die Verbindung von<br />

Statik und Dynamik, die dem Nationalstaat gelungen<br />

ist, lässt sich auf europäischer Ebene nicht wiederholen.<br />

Man muss die Nationen mitsamt einer gewissen<br />

Staatlichkeit in die EU einbauen, um ihr die erforderliche<br />

Elastizität zu verschaffen.<br />

HERFRIED MÜNKLER ist Professor für<br />

Politikwissenschaften an der Humboldt-<br />

Universität in Berlin. Vom 1951 geborenen Autor<br />

zahlreicher Bücher ist zuletzt erschienen: „Der<br />

Große Krieg. Die Welt 1914 bis 1918“<br />

Foto: Caro Fotoagentur<br />

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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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