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SALON<br />
Porträt<br />
TIFLIS? POTI? HAUPTSACHE ITALIEN<br />
Die Schriftstellerin Nino Haratischwili stammt aus Georgien und schreibt auf Deutsch.<br />
Ihr <strong>neue</strong>r Roman rückt Europa auf 1300 Seiten zurecht und vermisst das 20. Jahrhundert<br />
Von FRÉDÉRIC SCHWILDEN<br />
Wir sitzen in Hamburg auf einer<br />
Bank vor einem Café. Es regnet,<br />
als wolle die Welt untergehen.<br />
Dicke Tropfen, die fast wehtun,<br />
wenn sie den Kopf treffen. Zum Glück<br />
sind da Sonnenschirme. Und zum Glück<br />
macht Nino Haratischwili das Ganze<br />
nichts aus. Wahrscheinlich ist sie ein Regenmensch.<br />
Es raucht sich einfach besser,<br />
wenn es regnet.<br />
Also raucht sie und trinkt einen Latte<br />
macchiato und eine Rhabarberschorle.<br />
Am 1. September erscheint ihr dritter<br />
Roman „<strong>Das</strong> achte Leben (Für Brilka)“.<br />
Auf 1280 Seiten legt Haratischwili eine<br />
106 Jahre dauernde georgische Familiengeschichte<br />
vor. Eine Chronik über das<br />
Jahrhundert der größten, der schrecklichsten<br />
und wichtigsten Umstürze.<br />
Zum Teil ist es ihre Geschichte. „Autobiografisch,<br />
das möchte ich klarstellen,<br />
ist dieser Roman nicht“, sagt sie. Dennoch<br />
ist es unumgänglich, die eigene<br />
Geschichte zu erzählen, wenn man die<br />
Geschichte des Landes, aus dem man<br />
stammt, erzählen will. 1983 wird Nino<br />
Haratischwili in der Hauptstadt Tiflis geboren.<br />
Diese liegt für den Kontinentaleuropäer<br />
ebenso wie etwa die Hafenstadt<br />
Poti irgendwo drüben im Osten. Ein nicht<br />
greifbares Land, arm vielleicht. Tatsächlich<br />
ist Georgien die Schnittstelle zwischen<br />
Europa und Asien.<br />
In ihrem Buch schreibt sie viele Sätze<br />
über Georgien, Sätze, die kurz, aber stark<br />
sind. „Ich finde“, schreibt sie, „dass unser<br />
Land durchaus sehr komisch sein kann<br />
(nicht nur tragisch, will ich damit sagen).“<br />
Sie erzählt die Entstehungsgeschichte<br />
Georgiens: Auf einem Jahrmarkt hatten<br />
die Menschen einst um die Gunst Gottes<br />
buhlen müssen. Wer am lautesten schrie,<br />
durfte sich ein Land aussuchen. Ein Mann<br />
mit Bart und Wampe, der bereits Wein<br />
intus hatte, verschlief die Aufteilung der<br />
Erde. Gott weckte ihn und wollte wissen,<br />
warum der Mann kein Interesse an einem<br />
eigenen Land habe. Der Mann antwortete,<br />
er sei zufrieden, die Sonne scheine,<br />
er begnüge sich mit dem, was übrig bleibt.<br />
Gott hatte als Urlaubssitz für sich den<br />
schönsten Fleck der Erde zurückbehalten.<br />
Mit Flüssen, Wasserfällen, Früchten<br />
und „dem besten Wein der Welt“ – das<br />
schreibt Haratischwili wirklich –, und so<br />
erhielt der dicke Mann Georgien.<br />
„<strong>Das</strong> achte Leben“ besteht aus sieben<br />
einzelnen Büchern, die die Namen<br />
der Protagonisten tragen. „Buch 1 – Stasia“<br />
oder „Buch 3 – Kostja“. <strong>Das</strong> letzte<br />
Buch heißt „Buch 8 – Brilka“ und besteht<br />
aus drei weißen Seiten. Es ist die ungeschriebene<br />
Zukunft eines jungen Mädchens.<br />
Die einzelnen Bücher springen<br />
zwischen Berlin-Wedding im Jahr 2006,<br />
Sankt Petersburg vor der Oktoberrevolution<br />
oder sonstwo in einer Welt zwischen<br />
modernem Europa und Sowjetunion.<br />
HARATISCHWILI KOMMT 1995 das erste<br />
Mal nach Deutschland. Die Mutter sucht<br />
Arbeit im Westen. In der heimatlichen<br />
Schule hatte sie Deutsch gelernt. Der Vater<br />
geht in die Ukraine. Sie bleibt zwei<br />
Jahre, Nordrhein-Westfalen, kleines Dorf.<br />
Mit 14 kehrt sie zurück nach Georgien,<br />
macht ihr Abitur. 2003 beginnt sie in<br />
Hamburg Theaterregie zu studieren. Bis<br />
heute hat Haratischwili mehr als nur eine<br />
Hand voll Preise gewonnen, den Autorenpreis<br />
des Heidelberger Stückemarkts etwa,<br />
den Adelbert-von-Chamisso-Preis, den<br />
Kranichsteiner Literaturförderpreis. Ihre<br />
Stücke werden in Deutschland und Georgien<br />
gespielt. Im November feiert „Land<br />
der ersten Dinge“ am Deutschen Theater<br />
in Berlin Premiere. Haratischwili kann<br />
nicht still sitzen. Sie muss schreiben.<br />
Der Regen prasselt noch auf die Sonnenschirme.<br />
Haratischwili ist schwarz<br />
gekleidet. Schwarze, offene Schuhe, rot<br />
lackierte Zehen, schwarzes Oberteil,<br />
schwarze Haare. Von weitem würde man<br />
vielleicht denken, sie sei eine grimmige<br />
Frau. Aber wenn sie lacht, lacht sie wie ein<br />
Hühnchen, das Geburtstag hat. „Der Georgier<br />
ist der Fuck-off-Genießer vor dem<br />
Herrn“, sagt sie und lacht. „<strong>Das</strong> kannst<br />
du wirklich mit Italien vergleichen.“ Sie<br />
redet über die Mentalitätsunterschiede<br />
zwischen Ost und West. Erklärt den Tamada,<br />
den georgischen Tischanführer, der<br />
bei Gelagen bestimmt, wann getrunken<br />
wird. Erzählt von ihrem Lieblingsgericht<br />
„Hühnchen in Walnusssauce“.<br />
Ihr dritter Roman ist eine Frage an<br />
sich selbst. Wer bin ich? Wo komme ich<br />
her? Um das zu beantworten, kartografierte<br />
Haratischwili ein ganzes Jahrhundert.<br />
Für die Recherchen besuchte sie<br />
russische Bibliotheken, Moskau („der<br />
Horror, etwas Graues, Grausames, Unfreundliches“),<br />
Sankt Petersburg („offener,<br />
freundlicher, schöner, europäischer“).<br />
Collagenartig schreibt sie<br />
manchmal. Wenn sowjetische Propagandaposter<br />
mitten im Text auftauchen.<br />
Poppig, wenn sie vom Kiffen und Pink-<br />
Floyd-Hören hinter dem Eisernen Vorhang<br />
schreibt. Historio grafisch, wenn<br />
man Zeuge von Revolutionen wird.<br />
„Wir finden einander“ … bricht die<br />
Erzählung von „Buch 7 – Niza“ ab. Nino<br />
Haratischwili hat sich gefunden. In einem<br />
großen, sprachgewaltigen Buch, das Georgien<br />
näher an Europa rückt. Von Europa<br />
schreibt die Autorin einmal als einem<br />
„Kontinent der Gleichgültigkeit“.<br />
Aber dass ihr das alles andere als egal<br />
ist, zeigt der Roman.<br />
FRÉDÉRIC SCHWILDEN ist Reporter und<br />
Autor aus Berlin. Den Bart hat er schon,<br />
an der Wampe muss er noch arbeiten, um<br />
Georgier zu werden<br />
Foto: Henning Bode für <strong>Cicero</strong><br />
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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014