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Cicero Das neue Nationalgefühl (Vorschau)

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WELTBÜHNE<br />

Porträt<br />

DAS MASTERMIND<br />

Fernab von Gaza, aus dem sicheren Doha, dirigiert Chalid Maschal die Raketenangriffe<br />

auf Israel. Dadurch erweist sich der Hamas‐Chef als mächtigster Palästinenser<br />

Von SILKE MERTINS<br />

Foto: Kate Geraghty/The Sydney Morning Herald/Fairfax Media via Getty Images<br />

<strong>Das</strong> gerahmte Foto über den Polstersesseln<br />

in Chalid Maschals Arbeitszimmer<br />

zeigt eine Großaufnahme<br />

der Jerusalemer Altstadt. Über<br />

der Al-Aksa-Moschee und der goldenen<br />

Kuppel des Felsendoms hängen<br />

schwere, dunkle Wolken. Es sieht aus,<br />

als könnte jeden Augenblick ein Unwetter<br />

losbrechen.<br />

Maschal hat sein Leben wie auf diesem<br />

Bild ausgerichtet – immer am Rande<br />

eines Sturmtiefs. Der Politbüro-Chef der<br />

radikalislamischen Palästinenserorganisation<br />

Hamas geht seinen Geschäften<br />

meist bei klarem, blauem Himmel nach.<br />

Aber das, was er dabei einfädelt, erinnert<br />

an ein Weltuntergangsszenario: Raketenhagel<br />

auf Südisrael, Tunnelbau zum<br />

Angriff auf Soldaten, Entführungen, Terroranschläge<br />

– und im Ergebnis nicht enden<br />

wollende israelische Luftschläge und<br />

Zerstörung in Gaza.<br />

Die Aufnahme von seinem Arbeitszimmer<br />

stammt aus einer Serie privater<br />

Fotos, die Maschal der Fotografin des australischen<br />

Journalisten Paul McGeough<br />

erlaubt hat. Sie zeigen Maschals Tagesablauf<br />

in seinem Haus in einem Vorort von<br />

Doha, im märchenhaft reichen Golfemirat<br />

Katar. Hierher ist er geflohen, seit er<br />

wegen des syrischen Bürgerkriegs seinen<br />

Exilsitz in Damaskus verlor. Auf einem<br />

dieser Bilder scherzt der 58-Jährige mit<br />

einem politischen Weggefährten, auf einem<br />

anderen ist er mit seinen Enkelkindern<br />

zu sehen, dann wieder beim Training<br />

in einem privaten Fitnessstudio und<br />

an der Tischtennisplatte.<br />

Es sind diese Fotos aus dem Frühjahr<br />

2013, die nun während des Gazakriegs<br />

wieder auftauchen, auf Facebook und<br />

Twitter. Wie kann Maschal es sich beim<br />

Essen und beim Fitness gut gehen lassen,<br />

während im Gazastreifen Hunderte<br />

Menschen sterben? Gleichzeitig werden<br />

schwere Korruptionsvorwürfe gegen ihn<br />

erhoben. In der Hamas brodele es, heißt<br />

es. Ihm sei die Kontrolle über die Organisation<br />

entglitten.<br />

Mit der Wirklichkeit hat das wenig<br />

zu tun. Alle Berichte haben eines gemeinsam:<br />

Die Quellen sind dubios. <strong>Das</strong>s<br />

Hamas-Chef Maschal abgeschlagen im<br />

Luxusexil sitzt, bleibt Wunschdenken.<br />

Die Hamas hat eine disziplinierte<br />

Entscheidungs- und Kommandostruktur,<br />

sagt der Hamas-Experte Matthew<br />

Levitt vom Thinktank Washington Institute.<br />

Differenzen entstünden höchstens<br />

in der Hitze des Gefechts. „Der militärische<br />

Flügel erkennt die zentrale Rolle<br />

der politischen Führer bei operativen<br />

Entscheidungen an.“<br />

DAHER SEI ES ABSURD zu glauben, der<br />

exilierte Chef sei ins Hintertreffen geraten.<br />

„Chalid Maschal hat in dieser historischen<br />

Schlacht an Einfluss gewonnen,<br />

ebenso wie die Hamas“, sagt Hani<br />

al Masri, Direktor des Palestinian Center<br />

for Media and Research. Die Mehrheit<br />

der Palästinenser sieht nicht, dass die<br />

Hamas Zivilisten als Schutzschild missbraucht<br />

und immer <strong>neue</strong> Luftangriffe<br />

provoziert. Sie sieht das Entsetzen der<br />

Israelis über den unterbrochenen Flugverkehr<br />

und das ausgebaute Tunnelsystem.<br />

Und dass es Maschal ist, der das<br />

Geld dafür besorgt.<br />

<strong>Das</strong> britische Magazin New Statesman<br />

listete ihn schon 2010 auf Platz 18<br />

der 50 einflussreichsten Menschen der<br />

Welt. Inzwischen ist er der mächtigste palästinensische<br />

Politiker seit Jassir Arafat.<br />

Chalid Maschal entscheidet im Nahen<br />

Osten über Krieg und Frieden.<br />

In der Bevölkerung ist Maschal ohnehin<br />

eine Legende. Seit der israelische<br />

Geheimdienst Mossad 1997 versucht hat,<br />

ihn umzubringen, gilt er als „lebender<br />

Märtyrer“. Den Agenten gelang es zwar,<br />

Maschal ein Gift ins Ohr zu injizieren,<br />

dabei wurden sie jedoch erwischt, und<br />

der jordanische König zwang die Israelis,<br />

ein Gegengift einzufliegen.<br />

Heute ist Maschal alles in einer Person:<br />

Waffenschmuggler, Fundraiser, Diplomat,<br />

Oberbefehlshaber und PR-Experte.<br />

Er hat es perfektioniert, radikale<br />

Inhalte in harmlos klingende Sätze zu<br />

kleiden. „Bevor Israel stirbt, muss es gedemütigt<br />

und degradiert werden“, sagte<br />

er vor sechs Jahren in Damaskus. Heute<br />

klingt das so: „Wir bekämpfen nicht die<br />

Juden an sich. Wir bekämpfen die Besatzer.“<br />

Aber in beiden Fällen soll Israel von<br />

der Landkarte ausradiert werden.<br />

In Katar hat Maschal einen Verbündeten<br />

und Geldgeber für seine Ziele gefunden.<br />

„Er lebt komfortabel und hat<br />

Zugang zu Entscheidungsträgern“, sagt<br />

Theodore Karasik, Forschungsdirektor<br />

des Institute for Near East and Gulf Military<br />

Analysis in Dubai. „Katar garantiert<br />

seine Sicherheit.“<br />

Ob das reicht? Vor vier Jahren tötete<br />

der Mossad Mahmoud al Mabhouh, Mitbegründer<br />

der Qassam-Brigaden, in seinem<br />

Hotelzimmer in Dubai. Gerade erst<br />

hat Israels Außenminister Avigdor Lieberman<br />

dazu aufgerufen, Maschal endlich<br />

zur eliminieren: „Es ist der einzige<br />

Weg, der Hamas Schaden zuzufügen.“<br />

Frei bewegen kann sich der mächtigste<br />

Palästinenser deshalb auch in Katar<br />

nicht. Ein alter Freund, erzählt der<br />

australische Journalist McGeough, vergleicht<br />

Maschal deshalb mit seinem im<br />

Käfig sitzenden Kanarienvogel. Er hat<br />

ihn Chalid genannt.<br />

SILKE MERTINS ist seit 25 Jahren im Nahen<br />

Osten unterwegs. In den Wohnzimmern der<br />

Hamas-Vertreter faszinieren sie besonders die<br />

umhäkelten Papiertaschentuch-Boxen<br />

59<br />

<strong>Cicero</strong> – 9. 2014

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