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BERLINER REPUBLIK<br />
Porträt<br />
ERDOGANS SPÄTZLE<br />
Rezzo Schlauch fand Anerkennung durch Provokation: ein Gründungsgrüner pro Autos<br />
und für den Krieg, ein Gründungsgrüner bei EnBW. Jetzt arbeitet er für Erdogan<br />
Von JULIA PROSINGER<br />
Foto: Hans-Bernhard Huber/Laif<br />
Eine Welle schwappt durch Stuttgart,<br />
geradewegs zu auf einen Tisch in<br />
der Innenstadt, Weinstube Vetter.<br />
Dort hält die Welle an und bestellt einen<br />
schwäbischen Rostbraten. Mit Spätzle.<br />
Ein paar Stuttgarter drehen die<br />
Köpfe, manche winken. Sie kennen die<br />
Welle, sie kennen den Gang, ein Rollen,<br />
kein Laufen.<br />
Die Welle heißt Rezzo Schlauch. Bei<br />
der Kandidatur als Oberbürgermeister<br />
1996, bereits seiner zweiten, kokettierte<br />
der Grüne mit diesem Kultstatus. „Keiner<br />
kennt den Roten. Keiner kennt den<br />
Schwarzen. Alle kennen Rezzo.“ Er verlor<br />
knapp, weil die SPD ihren aussichtslosen<br />
Gegenkandidaten nicht zurückzog.<br />
Von diesen alten Zeiten erzählt er<br />
gern, hingegossen an den Bistrotisch<br />
wie eine von Dalis zerfließenden Uhren.<br />
Die Beine fortgestreckt, der Flosse einer<br />
Meerjungfrau gleich, den Schädel auf einen<br />
Arm gestützt, den Bauch im freien<br />
Fall zwischen Tisch und Stuhl. Im Bundestag,<br />
wo er einst Grünen-Fraktionschef<br />
war, sollen seine Mitarbeiter ihm geraten<br />
haben: „Fläz doch nicht so.“ Schlauch<br />
hörte nicht. Schlauch blieb Schlauch.<br />
Heute, mit 66 und neun Jahre nachdem<br />
er sich aus der Politik zurückgezogen<br />
hat, ist er Lobbyist und überredet<br />
deutsche Firmen, ihre Angst vor der<br />
Türkei abzulegen. Im Namen der türkischen<br />
Investitionsagentur Ispat. Sie untersteht<br />
Recep Tayyip Erdogan, einst als<br />
Modernisierer gefeiert, dann als Brutalo<br />
vom Gezi-Park gehasst, gerade als Regierungschef<br />
zum Präsidenten gewählt.<br />
Als Schröder zu Putin ging, Niebel zur<br />
Rüstungsindustrie und Pofalla zur Bahn,<br />
schrien viele. Nur Rezzo darf Rezzo sein.<br />
Von ihm erwartet man keine Moral.<br />
Er lag schließlich immer schräg, so<br />
wie jetzt am Tisch. Als Student in Freiburg<br />
war er Mitglied einer Burschenschaft. Im<br />
Landtag von Baden-Württemberg störte<br />
der junge Anwalt durch Zwischenrufe,<br />
verteidigte Hausbesetzer und Kiffer. Er<br />
gründete die Grünen mit, eine Partei<br />
der Provokation. Die wiederum provozierte<br />
er, wenn er Sätze sagte wie diesen:<br />
„Mit Frauenpolitik holt man heute<br />
keinen Schwanz mehr hinterm Ofen vor.“<br />
Bereits 1984 dachte er laut über eine<br />
schwarz-grüne Koalition nach. Er ließ<br />
sich im Sportwagen fotografieren. Boxte<br />
mit Joschka Fischer den Kosovo-Einsatz<br />
durch. Machte mit dienstlich erflogenen<br />
Bonusmeilen Urlaub in Thailand.<br />
Wer viel umtreibe, mache eben Fehler,<br />
sagt Schlauch. Ist das nicht sogar sympathisch?<br />
Seine Geschäftspartner mögen<br />
ihn deshalb, den einfachen Hohenloher<br />
Pfarrerssohn, den dialektschwätzenden<br />
Teddybären, der mal, ganz menschlich,<br />
auf dem Weinfescht zu viel trinkt. Und<br />
den die Moralstrenge der Grünen anwidert.<br />
Erst kürzlich schalt er sie für ihre<br />
Steuerpläne, motzte über den Veggie-<br />
Day, dann zog er sich wieder zurück.<br />
SCHWARZ-GRÜN IST eine Realität, Fritz<br />
Kuhn OB in Stuttgart, was gestern Provokation<br />
war, ist heute Normalität. Wo<br />
soll er noch hin, Rezzo Schlauch?<br />
2005 verließ er die Politik freiwillig.<br />
„Mir fehlt nichts. Wenn ich eine<br />
Bühne brauche, suche ich mir eine.“<br />
Noch während seiner Tätigkeit als parlamentarischer<br />
Staatssekretär im Wirtschaftsministerium<br />
hatte Schlauch beim<br />
Atomriesen EnBW unterschrieben. Der<br />
Grüne verkauft es als Revolution: „Als<br />
Achtundsechziger predigten wir den<br />
Marsch durch die Institutionen, jetzt<br />
wird es Zeit für den Marsch durch die<br />
Industriekomplexe.“<br />
Schlauch berät auch einen Anbieter<br />
von chinesischen Zahnersatzprodukten,<br />
einen Online-T-Shirt-Handel und zwei<br />
Bauernbuben von der Schwäbischen<br />
Alb, die Zündkerzen durch Mikrowellen<br />
ersetzen wollen. Er hat gerade als<br />
Rektor bei einer <strong>neue</strong>n Hochschule für<br />
Computerspiele in Stuttgart unterschrieben.<br />
„Manchmal verstelle ich mich –<br />
dann bin ich der, der ich bin“, ein alter<br />
Spontispruch.<br />
Macht Ihnen das gar nichts aus, ausgerechnet<br />
Erdogan zu unterstützen, Herr<br />
Schlauch? Die Welle rollt an. „In der Politik<br />
habe ich manchmal problematischere<br />
Positionen einnehmen müssen – in der<br />
Substanz kann ich das gut vertreten. Ich<br />
bin felsenfest überzeugt, dass die Industrialisierung,<br />
die in der Türkei maßgeblich<br />
unter Erdogan stattgefunden hat, und<br />
die damit einhergehende gesellschaftliche<br />
Modernisierung nicht mehr umkehrbar<br />
sind.“<br />
Man kann sich vorstellen, wie Gerhard<br />
Schröder sich gefühlt haben muss,<br />
wenn Fischer nach einem Koalitionskrach<br />
mal wieder den Fraktionschef Schlauch<br />
vorbeischickte. Schlauch brachte Schröder<br />
dazu, seinen Ärger herunterzuschlucken.<br />
„Unsere Gespräche waren nicht<br />
selten von Rotwein getränkt.“<br />
Schlauch schwappt vom Tisch. Die<br />
Türken, er wechselt auf die Metaebene,<br />
hätten doch eine ganz andere politische<br />
Kultur. Da könne man deutsche<br />
Maßstäbe nicht ansetzen. „In zehn Jahren<br />
werden die Europäer die Türkei auf<br />
Knien bitten, in die EU zu kommen. Was<br />
würde es dem Prozess bringen, wenn ich<br />
jetzt unter großem öffentlichen Aplomb<br />
Kritik üben würde?“<br />
Durchgespült. Wenn die Welle verebbt,<br />
bleiben nur ein paar Tropfen.<br />
JULIA PROSINGER lebt als Reporterin<br />
in Berlin. Ihr Blick reicht vom Lokalen<br />
auf die Weltbühne; oft verbindet sie die<br />
beiden Ebenen<br />
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<strong>Cicero</strong> – 9. 2014