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Kreide-fuer-den-Wolf_Roland-Baader

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ner Rechtsregel ist jeweils das, was weiter als seine Alternative<br />

vom Ungerechten entfernt ist. Einer der Anhaltspunkte für diese<br />

Entfernung – und zwar der wichtigste – ist die Bedingung, daß die<br />

Regel ausnahmslos für alle gelten muß. 200 Ein Beispiel: Wenn wir<br />

<strong>den</strong> Kindern eines Waisenhauses oder eines Flüchtlingslagers, die<br />

wir alle nicht kennen, ein Geschenk in Form von Schokola<strong>den</strong>tafeln<br />

machen wollen, dann können wir nicht behaupten, es sei „gerecht”,<br />

jedem Kind eine Tafel zu geben, <strong>den</strong>n die so Beschenkten<br />

haben unterschiedliche Vorlieben für Süßigkeiten und – je nach<br />

Alter und Gewicht – auch unterschiedlichen Hunger; manche mögen<br />

vielleicht überhaupt keine Schokolade. Aber wir können sehr<br />

wohl die objektive Feststellung treffen, daß es weniger ungerecht<br />

ist, jedem Kind die gleiche Einheit zu geben als beispielsweise unterschiedliche<br />

Mengen nach dem Verteilungskriterium „Alter” o-<br />

der „Geschlecht”. (Und weiter ins persönliche Detail können wir<br />

nicht gehen, weil wir, wie gesagt, die Kinder nicht kennen – genausowenig<br />

wie ein Gesetzgeber alle Menschen kennen kann, auf<br />

die sein Gesetz Anwendung fin<strong>den</strong> wird.) Der Rechtspositivist<br />

hingegen behauptet: Weil es keine objektiven Gerechtigkeitskriterien<br />

geben kann, bleibt nur der Ausweg, durch Gesetz festzulegen,<br />

was – je nach Zweck (z. B. Sättigung in unserem Schokola<strong>den</strong>-<br />

Beispiel) erwünscht ist; und das ist eben dann auch „gerecht”.<br />

Das zweite fundamentale Axiom des Rechtspositivismus besteht<br />

aus der Annahme (die wir beim Konstruktivistischen Rationalismus<br />

schon kurz gestreift haben), Recht sei das Ergebnis<br />

menschlichen (gesetzgeberischen) rationalen Entwurfs; was rechtens<br />

sei, könne also erst entschie<strong>den</strong> wer<strong>den</strong>, wenn irgendein kluger<br />

und weiser Gesetzgeber festgelegt – und möglichst auch niedergeschrieben<br />

habe, was recht und was unrecht sei. Recht ist aber<br />

älter als alle Gesetzgebung. Recht ist nicht dadurch entstan<strong>den</strong>,<br />

daß Menschengruppen sich zusammengeschlossen und dann Gesetze<br />

gegeben haben, sondern das Umgekehrte ist zutreffend: Gemeinschaften<br />

sind unter Menschen entstan<strong>den</strong>, die gleichen oder<br />

ähnlichen Verhaltensregeln zugeneigt waren. Einige dieser Regeln<br />

haben sogar schon existiert, bevor es eine Sprache gegeben hat,<br />

bevor sie also überhaupt artikulierbar und <strong>den</strong> Menschen bewußt<br />

gewesen sind. Nur die Tatsache, daß es <strong>den</strong> Priestern, Stammesführern,<br />

Richtern und Gelehrten in einem mehrtausendjährigen<br />

Lernprozeß gelungen ist, die meisten dieser Regeln aus ihrer Abstraktion<br />

herauszutasten und in geschriebenen Gesetzen artikulierbar<br />

zu machen, hat die Menschen zu dem Irrglauben verführt,<br />

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