Die fatale Sehnsucht nach einem überlebten ParadigmaLebensangst, Niedergeschlagenheit, Konzentrationsstörungen, sozialeIsolation, Hyperaktivität, Gewaltbereitschaft (um nur einige Punkte zunennen) ... immer mehr Kinder befinden sich zeitweilig oder dauerhaft ineinem Zustand, der sie zu „Problemfällen“ werden lässt. Dann treten Ärzte,Psychotherapeuten, Heil- und Sozialpädagogen und andere Eingliederungshilfespezialistenauf den Plan, um die Symptome zu kurieren. Sokann es nicht weitergehen. Die Rede von der Notwendigkeit eines „Paradigmenwechsels“mag mittlerweile abgedroschen klingen, aber im Hinblickauf das pädagogische Sehen, Denken und Handeln ist sie zweifellosangebracht. Daher begrüßen wir es im Prinzip, dass seit geraumer Zeit(wieder) eine breite öffentliche Debatte über Kindheitsfragen stattfindet.Doch der Verlauf dieser Debatte gibt Anlass zur Sorge. Profunde Beiträgefinden vergleichsweise wenig Gehör. Das Krisengebiet Kindheit wird mitansteigender Tendenz zum Agitationsfeld für vorgebliche Retter, dienichts Erhellenderes anzubieten haben als eine völlig unangebrachte restaurativePropaganda.Zurück zum Altbewährten! lautet der Schlachtruf. Zurück in die Zeiten,in denen Erziehung einem „glasklaren Befehls-Gehorsams-Schema“folgte, weil der Glaube vorherrschte, dass anders kein Kind „zu seinerBestimmung als Mensch gelangen konnte“, so Marianne Gronemeyer inihrem Buch Lernen mit beschränkter Haftung. „Es war also für damaligeErzieher sehr einfach zu wissen, was von ihnen verlangt wurde“, fährtdie Autorin fort. Als primäre Erziehungsziele galten Disziplin, Ordnung,Fleiß, Reinlichkeit, Pünktlichkeit und (vor allem) Gehorsam. Nach demWillen der „Reformer“, mit denen wir uns im Folgenden auseinander zusetzen haben, soll nun dieser senile Geist wieder das Zepter ergreifen,um den vorgeblichen Sitten- und Werteverfall im pädagogischen Raumaufzuhalten. Was sie verdrängen oder unterschlagen: Das „Altbewährte“wurde über Bord geworfen, weil es sich auf spektakuläre Weise nichtbewährt hatte.Erschreckend viele Menschen, die in den „guten alten Zeiten“ aufwuchsen,erlitten in ihrer Kindheit Demütigungen, von denen sie sich niewieder erholten. Daher wurde die Annahme, Kindsein unter den Bedin-2
gungen des herkömmlichen Erziehungsverständnisses sei per se eintraumatisierender Zustand, in den 1960/70er Jahren so populär. Dasdamals von vielen Pädagogen, Psychologen, Soziologen und Sozialphilosophenartikulierte Unbehagen an autoritären Erziehungsmethoden lag inFakten begründet, nicht in ideologischen Vorurteilen, wenngleich manches,was zur theoretischen Untermauerung des Unbehagens präsentiertwurde, wenig geeignet war, ein tieferes Verständnis des kindlichen Seelenlebenszu befördern. Teilweise erreichte der Diskurs aber auch ein Niveau,von dem man heute nur noch träumen kann.Ende der 1980er Jahre setzte dann, gleichlaufend mit dem Siegeszugdes Marktradikalismus, die kulturkonservative Gegenreformation ein,hierzulande seinerzeit als „geistig-moralische Wende“ apostrophiert: dasgroße Rollback, dessen Finale wir gegenwärtig erleben als allgemeine„Tendenz zur Entdemokratisierung wichtiger gesellschaftlicher Bereiche(...), bevorzugt im Feld der Erziehung“ (Franz-Olaf Radtke in: Vom Missbrauchder Disziplin, Hrsg. Micha Brumlik.) Einerseits, so Radtke, „ist andie Stelle des liberalen Konsenses über Ziele und Prozeduren der Erziehungin einer demokratisch verfassten Gesellschaft eine neoliberale Deutungshegemoniegetreten“ (Kinder als „Humanressourcen“ für wirtschaftlicheZukunftsplanungen), andererseits mehren sich Stimmen, die, einem„antiquierten Reflex“ folgend, für „Wiederaufrüstung im Lager der Erwachsenen“plädieren.Über diese nostalgisch untermalte Entdemokratisierungstendenz, die seit geraumerZeit auf bemerkenswerte Weise mit dem Siegeszug des Hightech-Kapitalismus korreliert, hat der in keiner Weise linksverdächtige WirtschaftsjournalistChristian Rickens ein kluges Buch vorgelegt: Die neuen Spießer. Vonder fatalen Sehnsucht nach einer überholten Gesellschaft. Was Rickens, demoffenbar der schwarze Schimmel eines sozialethisch integren Marktradikalismusvorschwebt, geflissentlich übersieht: Neoliberalismus und Neokonservativismussind zwei Seiten derselben Medaille. Während Kinder zur ökonomischenVerfügungsmasse degradiert werden, verhandelt man konsequenterweiseimmer unverfrorener über Strategien zur Sicherstellung der tatsächlichenVerfügbarkeit dieser Verfügungsmasse.3
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Fabian, WolfgangFreier JournalistHe