● Diagnosen wie ADHS, Teilleistungsschwäche oder Asperger-Autismus laden per se zum inflationären Gebrauch ein. Die Kriterien sindextrem weit gefasst. Da bleibt, bei allem instrumentellen Aufwand(Quantität und Qualität sind eben zwei Paar Stiefel), viel Ermessensspielraum.Wie er genutzt wird, ist bekannt. Der Trend zur Überdiagnostizierungsorgt für anhaltende Diskussionen. Nur ändert sich leider nichts.● Auch psychoanalytische Deutungsmuster unerwünschten Verhaltensführen manchmal in die Irre, vor allem wenn sie von einer reaktionärenGebots- und Gehorsamsmoral diktiert sind. Merke: Nicht jederkleine Frechdachs ist im infantil-narzisstischen Stadium stecken geblieben,weil die Eltern versäumt haben, ihm rechtzeitig klar zu machen, woder Hammer hängt. Widerspenstigkeit muss kein Makel sein. Wenn die„natürliche Dissidenz des Kindes“ (Hans Saner) ungebrochen bleibt, istdas unter salutogenetischen Gesichtspunkten sogar von Vorteil. UnerschrockenePädagogen können damit umgehen. Man muss unterscheidenzwischen verzweifeltem Dauertrotz (hier erhebt sich von Fall zu Falldie Frage nach dem Grund der Not, und es gibt viele mögliche Gründe)und gesunder oppositioneller Energie. Wer letztere für pathologisch hält,versteht nichts von Kindern.Resümee: Der sicherlich gut gemeinte Problemerkennungs und Problembeseitigungseiferist selbst zum Problem geworden. Jedwede Art vonAbweichung evoziert augenblicklich das Bedürfnis, sie mängeldiagnostischzu klassifizieren und therapeutisch zu korrigieren, und ist der Blickeinmal auf Fehlerfahndung programmiert, wird man auch fündig. Einehysterische Überwachungsmentalität macht sich breit. Es braucht heutenicht viel, damit ein Kind in die Statistik der „Problemfälle“ eingeht.Während Bueb einfach nur das uralte Klagelied von den bösen Bubenanstimmt, denen man mal ordentlich der Hosenboden stramm gezogenwerden müsste, bedient Winterhoff diesen Trend zur psychopathologischeEtikettierung abweichenden Verhaltens mit Emphase. Wenn er, unentwegtpädagogische Ratschläge erteilend, betont, es liege ihm fern,sich als Arzt über pädagogische Fragen auszulassen, die Rolle der Erziehungwerde ohnehin überschätzt; wenn er dann, zweitens, erklärt, mitmedizinischen Diagnosen sei nichts gewonnen, und schließlich, drittensbehauptet, 80 Prozent der Schüler einer durchschnittlichen Grundschul-68
klasse litten unter psychiatrisch relevanten, kombinierten Störungsbildern,ist dies wiederum unter der Rubrik „Verwirrspiel“ zu subsumieren.Und doch weist das Chaos eine gewisse Grundordnung auf: Die aktuelleKindergeneration wird krankgeschrieben (frühkindlich-narzisstische Störungen,so weit das Auge reicht), die aktuelle Elterngeneration als Generationvon beziehungsgestörten Versagern gebrandmarkt. Dann zaubertunser messerscharfer Analytiker die „traditionelle pädagogischeDenkweise“ mit den „Eckpfeilern Autorität und Hierarchie“ alsprobates Heilmittel aus dem Hut – nicht ohne hinzuzufügen, auf dasDenken komme es eigentlich gar nicht an und strengere Erziehung seizwecklos (womit die Grundordnung wieder zusammenbricht).Als Mahner könnte man ihn ja zur Not noch durchgehen lassen. Aberals Wegweiser?Lehrern gibt er das folgende diagnostische Instrument an die Hand: Sie sollender Klasse befehlen, ein bestimmtes Buch aus dem Schulranzen zu holen. AlleKinder, die eine zweite oder gar dritte Aufforderung brauchen, seien psychischgestört. (Erstes Buch) So glaubt der Mann seine These erhärten zu können,pathologische Entwicklungsdefizite seien heute nicht mehr die Ausnahme,sondern die Regel. In Anbetracht solcher todernst gemeinter Späße empfiehltes sich, den horrenden Zahlen, die in letzter Zeit kursieren (sie schnellen allepaar Jahre in die Höhe), mit Skepsis zu begegnen. Wenn behauptet wird, 70,80 Prozent der Schüler einer durchschnittlichen Grundschulklasse seien psychischgestört, muss die Frage nach der Geistesverfassung des Betrachters erlaubtsein. Sie muss schon erlaubt sein, wenn von 40 oder 50 Prozent die Redeist. Derartige Alarmmeldungen entsprechen „selbstverständlich weder statistischnoch in unserer persönlichen Erfahrung der Realität“, betont WolfgangBergmann. Gehen wir mal vorsichtig davon aus, dass jedes fünfte Kind anhaltendüberfordert ist und jedes zehnte Symptome zeigt, die die Frage aufwerfen,ob es therapeutische Hilfe braucht. Schlimm genug. Was tun? Jegge gibteine unpopuläre Antwort, die aber wohl den einzigen Erfolg versprechendenWeg zeigt: „Lassen wir doch das Kind wieder Kind sein, lassen wir ihm Zeit,statt die kleinste vermeintliche Abweichung als abnormal abzustempeln und esumso heftiger auf Effizienz zu trimmen.“ Für arme, von Milieuschädigungenbedrohte Kinder fordern wir, um auch das zu erwähnen, seit langem politische69
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