Eva Justin
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Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder 33<br />
Heute müssen wir also sagen: die allgemein günstige Lage der<br />
Zigeunerverhältnisse in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts<br />
ist aus der humanen und doch zugleich ordnenden Staatsführung<br />
heraus zu verstehen. Aber die besonderen Maßnahmen, die auf eine<br />
allmähliche Assimilierung der Zigeuner und Verschmelzung mit dem<br />
deutschen Volk gerichtet waren, haben sowohl den Deutschen wie den<br />
Zigeunern erheblich geschadet, indem sie einer Mischung von Zigeunern<br />
mit sozial untüchtigen Deutschen Vorschub leisteten und die<br />
Minderwertigkeit auf beiden Seiten verstärkten. Nur eine einzige —<br />
vielleicht auch noch eine zweite Linie — ist ohne besonderen Schaden<br />
in der deutschen Bevölkerung aufgegangen. Die Nachkommen leben<br />
heute unauffällig und müssen z. T. sogar als sehr geordnete und<br />
leistungsfähige Volksgenossen beurteilt werden. Aber das wäre wohl<br />
auch so, wenn sie neben ihren 31 guten deutschen Vorfahren noch<br />
einen 32. Deutschen und nicht einen Zigeuner hätten!<br />
Aus der 1910 erschienen juristischen Dissertation von H,<br />
A ich el e7) ersieht man, daß sich 1871 durch die Aufhebung der<br />
einschränkenden Hausierbestimmungen für die Zigeuner und durch das<br />
allgemeine Freizügigkeitsgesetz die Klagen über das Zigeunerunwesen<br />
wieder sehr schnell vermehrten. Sehr richtig erkannte A ic hel e, daß<br />
man einem auf der Kindheitsstufe der Menschheit stehengebliebenen<br />
Stamm Freizügigkeit und Gewerbefreiheit nicht ebenso schrankenlos<br />
zugute kommen lassen dürfe wie einem hochstehenden Kulturvolk.<br />
Viele Einzelbestimmungen erließ man nun im Laufe der Jahrzehnte<br />
zur Bekämpfung der alten Plage. Schließlich wurde das Umherziehen<br />
wieder ganz verboten. Da man aber nicht wie die vorhergehende<br />
Generation in positivem Sinn für die Zigeuner sorgte, sondern nur<br />
strafte, blieb ihnen nichts anderes übrig, als doch zu wandern, denn<br />
selbst konnten und wollten sie sich nicht Arbeit suchen. Es setzte dann<br />
das Abschubsystem von Oberamt zu Oberamt, von Staat zu Staat ein,<br />
das bis zum Ausbruch des jetzigen Krieges noch ständig — aufs<br />
Ganze gesehen gleich erfolglos — ausgeübt wurde.<br />
Die einzige Maßnahme, die dem Uebel auf den Grund gehen<br />
wollte, war der Gesetzeserlaß von 1899 „betr. die Fürsorge-(Zwangs)<br />
7) A i chele, Hermann: „Die Zigeunerfrage, mit besonderer Berücksichtigung<br />
Württembergs", Stuttgart 1910.<br />
Veröffentlichungen 3