Eva Justin
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Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder 89<br />
geordneten Arbeiterfamilie. Mit seiner Arbeitsleistung war man immer zufrieden.<br />
34 Jahre diente er bei der Reichsbahn. Jetzt ist er pensioniert.<br />
Seine gesamte soziale Einpassung ist trotzdem zum mindesten fragwürdig.<br />
Wenn er auch kein ausgesprochener Säufer ist, so trinkt er doch reichlich.<br />
Um seine erste Frau und die gemeinsamen vier Kinder hat er sich nie mehr<br />
gekümmert. Seine Zigeunerfrau hat ihm noch vier Kinder geboren. Die<br />
Hauhaltsführung ist einigermaßen geordnet. Die Frau gibt sich große Mühe<br />
nicht aufzufallen. Aber gut vorsorgen und einteilen kann sie nicht. In den<br />
ersten Tagen wird flott gelebt, am Ende der Woche müssen dann kleine<br />
Schulden beim Bäcker und Fleischer gemacht werden. Die Zigeunerin fühlt<br />
sich nicht wohl in ihrer Haut, ist verkrampft und unfrei. Die Kinder sind<br />
zum Teil charakterlich minderwertig. Die Familie ist sozial gerade noch<br />
tragbar.<br />
Genovefa L ehmann (Gruppe I) wurde als 6jährige von kinderlosen<br />
Bauersleuten als eigenes Kind angenommen. Sie waren mit dem lebhaften,<br />
begabten Mädchen zufrieden, aber „so ganz wuchs es ihnen doch<br />
nicht ans Herz. Es war eben ein Zigeunerkind". Sie konnten sich deshalb<br />
nicht zur Adoption entschließen.<br />
„In der Dorfgemeinschaft stand das Zigeunermädchen etwas abseits.<br />
Schon in der Schule hat sie gern nach den Buben gesehen." Sie war gutmütig<br />
und ehrlich. Zur Arbeit mußte sie aber immer angehalten werden.<br />
So schickten die Pflegeeltern die 15jährige als Fabrikarbeiterin in die Stadt.<br />
Wenn sie auch recht anhänglich war — noch als verheiratete Frau besuchte<br />
sie die Pflegeeltern ab und zu — wurde der Umgang mit ihr doch immer<br />
schwerer. Sie war leicht reizbar, wurde mit den Jahren dickköpfig und<br />
unbelehrbar. 21jährig bekam sie ein uneheliches Kind.<br />
27jährig heiratete sie dann einen Telegraphenarbeiter. Dieser Mann<br />
stammt vom Lande, ist arbeitsam und rechtschaffen. Ueberall stellt man<br />
ihm ein gutes Zeugnis aus. Seine Zigeunerfrau hat sich den kleinbürgerlichen<br />
Verhältnissen äußerlich sehr gut angepaßt. Sie ist haushälterisch,<br />
fleißig und sparsam. Viele Jahre hat sie als geschickte Vertreterin gut mit<br />
dazu verdient, so daß sie sich ein kleines Einfamilienhaus in einer mittelgroßen<br />
Stadt kaufen konnten. Ihre bürgerliche Aufmachung wirkt aber<br />
unecht. Sie ist gezwungen, unnatürlich und geziert in ihrer Sprache und<br />
Gestik. Ihr reizbares, zänkisches Wesen macht sie in der ganzen Nachbarschaft<br />
unbeliebt, ihre scharfe Zunge ist überall gefürchtet. Von ihrer<br />
Schwester, die in der gleichen Stadt mit einem Trinker verheiratet ist, rückt<br />
sie weit ab und macht sie kritiklos schlecht. Noch viel liebloser verhielt<br />
sie sich gegen ihr uneheliches Kind, das sie einige Jahre in ihrem Haushalt<br />
aufgenommen hatte. Bei ihrer inkonsequenten Erziehung — große Nachgiebigkeit<br />
und unberechenbare Heftigkeit — verwahrloste der weiche, unstete<br />
Junge vollkommen, lief mehrmals von Hause weg, ließ sich zweimal zu versuchten<br />
Sittlichkeitsverbrechen treiben und schloß sich zuletzt herumziehenden<br />
Zigeunern an. Seit mehreren Jahren ist er in einer geschlossenen Für-.