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Eva Justin

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Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder • 99<br />

Paul liebte ebenso wenig wie seine Schwester körperliche Anstrengungen.<br />

Nur bei Arbeiten, die ihm zusagten, war er fleißig. Man gab ihn zu einem<br />

Bauern in Dienst, der zuerst mit ihm zufrieden war, aber er schaffte nur,<br />

wenn er wollte. Als der 15jährige eine wohlverdiente Ohrfeige von seinem<br />

Dienstherrn bekam, trug dieser ein blaues Auge von seiner Erziehungsmaßnahme<br />

davon. Da Paul das Schmiedehandwerk lernen wollte, gab man ihn<br />

in eine Lehre. Er führte sich zwei Jahre gut. Der Meister war auch mit<br />

der Arbeit zufrieden. Als der Weltkrieg ausbrach, meldete er sich freiwillig<br />

zum Militär und wurde „wegen seines guten Betragens und seiner patriotischen<br />

Gesinnung" (?) frühzeitig aus der Fürsorgeerziehung entlassen. Viele<br />

Jahre konnten wir darüber hinaus nichts mehr Fiber ihn in Erfahrung bringen.<br />

Die Zigeuner hatten uns von ihm erzählt, daß er schon seit 20 Jahren in<br />

Ostpreußen wohne. Er sei Schmied und habe eine deutsche feine Frau geheiratet.<br />

Schließlich stöberten wir ihn in Schlesien auf. Dicke Akten lagen<br />

auf dem Wohlfahrtsamt. Aus seinen gewandten aber unverschämten Briefen<br />

war zu ersehen, daß er seine ganze Energie seit 20 Jahren für einen Rentenkampf<br />

verwandte. Nach dem Weltkrieg war er von der Reichswehr übernommen<br />

worden, mußte aber 1921 wegen eines alten Lungenleidens, das<br />

während der Militärzeit wieder aufgeflackert war, entlassen werden. Trotzdem<br />

dieses inzwischen völlig 'ausgeheilt ist, hat er so gut wie nichts mehr<br />

gearbeitet. Auf allen Behörden ist er als lästiger Querulant und chronischer<br />

Rentenneurastheniker unliebsam bekannt. Nur die gutherzigen Beamten eines<br />

Wohlfahrtsamtes konnte der große Schauspieler so täuschen, daß sie seine<br />

Anträge auf Weiterzahlung von 30 v. H. Rente immer wieder befürworteten.<br />

Gelegentlich hat er Fabrikarbeit geleistet, während vieler Jahre auch vorübergehend<br />

bei Bauern gearbeitet. Seine Frau, eine primitive, schwachsinnige<br />

Person, hat bis jetzt vier Kinder von ihm geboren. Die<br />

Familie, im ganzen Dorf verabscheut, haust in dem Armenhaus der Gemeinde,<br />

das von außen frisch ,geweißt, innen aber ein unbeschreibliches Schmutzloch<br />

ist. Die Kinder betteln und nehmen die Hühnereier aus den Nestern.<br />

Der Mann ist überall gefürchtet, trotzdem er sich im Ort tadellos führt<br />

und sich ganz zurückhält. Jeder hat seit dem Zuzug dieser Leute<br />

sein Kleinvieh hinter Schloß und Riegel verwahrt. Niemals läßt er sich<br />

erwischen. Aber jeder weiß, daß er Gras auf fremden Wiesen mäht,<br />

Kartoffeln von fremden Aeckern erntet, Holz im Walde holt und wahrscheinlich<br />

auch wildert. Er wurde vor einem Jahr in der nächstliegenden Stadt<br />

dienstverpflichtet. Von einer regelmäßigen Arbeit ist aber 'auch jetzt bei<br />

ihm keine Rede. Wenn es ihm gerade paßt, wird er wieder „krank". In<br />

dieser Zeit sammelt er dann mit seinen Kindern Blaubeeren. „Da verdiene ich<br />

mehr dabei." Oder er betreibt dunkele Geschäfte. Seltsamerweise war noch<br />

keiner auf den Gedanken gekommen, in ihm einen Zigeuner zu vermuten.<br />

In die dortige Gegend kommen seine Rassegenossen sehr wenig. Seitdem<br />

seine Abstammung bekannt ist, verstehen nun alle auf einmal das Beunruhigende<br />

und Undurchsichtige seiner Art.<br />

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