Eva Justin
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8 <strong>Justin</strong><br />
als Kammerjäger oder Puppenspieler. Meist betrieben sie ihre kleinen<br />
Fertigkeiten nur gelegentlich und ernährten sich in der Zwischenzeit<br />
durch Bettel, Gaukelei oder Diebstahl. Immer wieder hat aber diese<br />
Lebensweise mehr oder weniger heftige Gegenmaßnahmen bei dem<br />
Wirtsvolk ausgelöst. Die Bemühungen der „Zigeunerplage" Herr zu<br />
werden, waren nun in den letzten 150 Jahren sozialer und fürsorgerischer<br />
Art. Eine Untersuchung der praktischen Erfolge dieses Versuches<br />
schien uns daher für das Wesen der Zigeuner sehr aufschlußreich<br />
zu sein. So begann ich mit der Sammlung des Materials'.<br />
In den verschiedensten Dörfern und Städten sprach ich mit den<br />
Lehrern, die Zigeunerkinder länger oder kürzer unterrichtet hatten.<br />
In einem ländlichen, ganz abseits gelegenen Heim, in dem z. Z. alle<br />
württembergischen Zigeunerkinder, die ihren Eltern abgenommen<br />
wurden, zusammen mit Jenischen') und einem kleinen Teil deutscher<br />
Fürsorgezöglinge unter relativ günstigen Umständen aufwachsen, lebte<br />
ich sechs Wochen mit den Kindern, führte psychologische Untersuchungen<br />
durch und beobachtete sie vor allem in ihren Reaktionen<br />
auf die ihnen artfremde Erziehung.<br />
Von sämtlichen Fürsorgeanstalten und Kinderheimen des Reiches<br />
ließ ich mir die Namen der Zigeuner melden, die in den letzten<br />
30 Jahren dort erzogen wurden und entnahm aus den erbetenen Akten<br />
die Beurteilung ihrer Führung und Entwicklung. Von den Jugendämtern<br />
erfuhr ich von einzelnen Zigeunerkindern, die bei deutschen<br />
Pflege- oder Adoptiveltern erzogen wurden und werden. Wenn wir<br />
nicht selbst die Pflegeeltern aufsuchen konnten, so ließen wir durch<br />
die Fürsorgerinnen der Jugendämter das wichtigste an Hand eines<br />
Fragebogens klären. Es gibt nur sehr wenige Fälle, in denen Zigeuner<br />
in deutschen Familien aufwuchsen. Die Gründe dafür sollen später erklärt<br />
werden.<br />
Mit der Zeit gewann ich so einen guten Ueberblick und genaue<br />
Kenntnisse der Erfahrungen, die man mit jungen und jugendlichen Li-<br />
i) Der Ausdruck „jenisch" ist aus demselben hebräischen Wort (jana =<br />
übervorteilen) hervorgegangen wie das Wort Jauner, Gauner. Vgl. Kluge,<br />
Rotwelsch I 176.<br />
Ueber die jenische Gaunerpopulation vgl. Ritter, Robert: „Ein Menschenschlag",<br />
erbärztliche und erbgeschichtliche Untersuchungen über die —<br />
durch 10 Geschlechterfolgen erforschten — Nachkommen von „Vagabunden,<br />
Jaunern und Räubern".