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Eva Justin

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Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder 41<br />

Aber trotz aller Vorsichtsmaßregeln geraten sie immer wieder in<br />

die Hände der Weißen — wie auch ,,Wankerli" schließlich resigniert<br />

zugab: „Die sind eben doch schlauer als wir!" Auch gibt es immer<br />

wieder mal einen recht kriminellen Burschen unter ihnen, der für längere<br />

Zeit eingesperrt werden muß. Einmal starben die beiden Eltern<br />

von sechs Kindern innerhalb von zwei Tagen, und ehe die Verwandten<br />

die Kinder in Sicherheit bringen konten, hatten die Behörden die<br />

Waisen aus ihrer „Verwahrlosung errettet". Denn wenn auch der erste<br />

Anlaß für die Unterbringung der Kinder deren tatsächliche augenblickliche<br />

Obdachlosigkeit war, so weckte das mißverstandene Elend<br />

doch immer sehr bald ein echtes Mitleid in der seßhaften Bevölkerung.<br />

Nicht selten war es der Gendarm, der den ersten Bericht über die<br />

„grenzenlose Verwahrlosung" machte. Denn hatte man die verlausten<br />

und verschmutzten Zigeuner erst einmal gründlich abgeseift und neu<br />

eingekleidet, war jedermann entzückt von den „lebhaften, aufgeweckten,<br />

reizenden Kindern". Mehrfach schrieben Pflegemütter flehend,<br />

man solle doch nicht so unmenschlich sein und die unschuldigen lieben<br />

Kinder, die gerade anfingen sich wohl zu fühlen, wieder zu ihren<br />

verkommenen Eltern auf die Landstraße jagen.<br />

So ist dann auch die Begründung für das dringende Einschreiten<br />

des Staates in den Fürsorgebeschlüssen der Landarmenbehörden und<br />

Amtsgerichte bis auf den heutigen Tag immer wieder dieselbe. Der<br />

folgende Beschluß des Amtsgerichtes Lindau aus dem Jahre 1910 hätte<br />

mit kleinen Variationen für sämtliche 148 Fälle gepaßt. Man hätte sich<br />

die Mühe der stets neuen Formulierungen sparen können.<br />

„Die Eltern wurden mit ihren Kindern im Bezirk des K. Ag. Lindau aufgegriffen,<br />

wie sie mit ihren Reisewagen von Ort zu Ort zogen, und in das<br />

Amtsgerichtsgefängnis eingeliefert. Eine darauffolgende Untersuchung ergab<br />

dringenden Verdacht der Landstreicherei. Durch Urteil des Schöffengerichts<br />

b. Amtsgericht Lindau wurden dieselben wegen Landstreicherei verurteilt<br />

und der Landespolizeibehörde überwiesen, welche die Einschaffung in<br />

Arbeitshäuser verfügt hat.<br />

Ist es nun schon äußerst zweifelhaft, ob die genannten Kinder bei dem<br />

unständigen und unsteten Leben ihrer Eltern die richtige und erforderliche<br />

Erziehung durch Schulbesuch und Religionsunterricht, sowie das geeignete<br />

Vorbild seitens ihrer Eltern genießen würden, so steht es außerhalb jeden<br />

Zweifels, daß die im Arbeitshaus untergebrachten Eltern nicht einmal für das<br />

leibliche Wohl ihrer Kinder sorgen können, geschweige denn zur Erziehung<br />

derselben fähig und in der Lage sind. Ferner wäre zu befürchten, daß die<br />

Kinder, würde man sie in den Händen der Eltern belassen, nicht nur die

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