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Eva Justin

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Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder 69<br />

die Geringschätzung, mit der die Umwelt dem Zigeuner begegnet, erst<br />

in späteren Jahren nach seinem eigenen Versagen. Aber schon das<br />

Zigeunerkind, das im Schulalter von den Seinen genommen wird, spürt<br />

neben dem großen es ganz ausfüllenden Trennungsschmerz auch meist<br />

sofort eine geheime oder offene Verachtung von seiten seiner<br />

deutschen Altersg'enossen, die ebenso wie die Erwachsenen zuerst in<br />

ihm den schmutzigen, verkommenen Zigeuner sehen, der die ganze<br />

Minderwertigkeit seiner Rasse repräsentiert. Dem setzt das ältere<br />

Zigeunerkind zunächst eine tiefe, instinktive Ablehnung entgegen —<br />

verbunden mit Furcht und Mißtrauen.<br />

Der Umweltwechsel bedeutet für das Zigeunerkind im allgemeinen<br />

einen stärkeren Schock als für ein deutsches Kind, das durch einen<br />

Schicksalsschlag zwar aus dem Nest der 'elterlichen Liebe und Fürsorge<br />

gerissen wird, aber doch in einer arteigenen Umgebung bleibt. Der<br />

junge Zigeuner kannte die Weißen, die Gadji, bisher nur als Feinde in<br />

Gestalt des Landjägers, des gestrengen Bürgermeisters oder des<br />

fluchenden Bauern. Es bleibt ihm unverständlich, warum diese<br />

Fremden, vor denen es immer fliehen mußte, die ihn gegen das heftige,<br />

schmerzerfüllte Widerstreben der Eltern mitnahmen, nun auf einmal<br />

freundlich sind. Es wittert lange Zeit immer noch Gefahr bei jedem<br />

Neuen, das ihm begegnet, fürchtet von jedem auftauchenden Fremden<br />

eine weitere Einschränkung seines Seins (vgl. S. 52).<br />

Aber nicht nur die Tatsache des Verlustes der alten Ungebundenheit<br />

lastet auf ihm und die heftige Sehnsucht nach den Seinen, sondern<br />

jede einzelne Begegnung mit den Fremden wird ihm zum neuen Beweis<br />

seines Unglücks. Je jünger er ist, um so weniger versteht er die<br />

deutsche Sprache, aber auch der ältere beherrscht sie selten so weit,<br />

daß er sich ohne Schwierigkeiten und Fehldeutungen verständigen<br />

kann. Sein Bravsein in der ersten Zeit beruht z. T. auch einfach auf<br />

dem Mangel an Sprachkenntnissen. Es bleibt ihm gar nichts anderes<br />

übrig, als zu schweigen, sich zu fügen und — nach einer günstigen<br />

Fluchtmöglichkeit zu spähen. Um die Kinder möglichst schnell in die<br />

neue Umgebung einzugewöhnen, sie ihre bisherige Welt vergessen zu<br />

lassen und natürlich auch geheime Verständigungsmöglichkeiten<br />

zu unterbinden, wurde ihnen bisher überall verboten, in ihrer Muttersprache<br />

untereinander zu reden. Teilweise hat man gar nicht gemerkt,<br />

daß die Kinder das meiste von dem, was man ihnen erklärte und auseinandersetzte,<br />

gar nicht verstanden, weil sie die Worte nicht kannten.

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