Eva Justin
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42 <strong>Justin</strong><br />
zum Leben nötige Ausbildung nicht erlangen, sondern auch durch das<br />
gemeinsame Zusammenleben mit den Eltern im Reisewagen ein äußerst ungeeignetes<br />
und unzweckmäßiges Vorbild in sittlicher Hinsicht stets vor Augen<br />
hätten. Auch besteht die Gefahr, daß dieselben durch das andauernde Herumziehen<br />
selbst von dem Drang zur Landstreicherei erfaßt würden und so, wie<br />
ihre Eltern, späterhin ebenfalls untaugliche Elemente der menschlichen Gesellschaft<br />
werden würden. Es ist somit die Voraussetzung des Artikels 1 Nr. 3<br />
des Zwangserziehungsgesetzes gegeben und Anordnung der zwangsweisen<br />
Unterbringung begründet."<br />
Daraus spricht die Entrüstung des zivilisierten Europäers über<br />
die primitive Lebensform von Nomaden, die er als solche nicht erkennt<br />
und deshalb mit seinem Maaße mißt und mit seinen Erziehungsmethoden<br />
ändern will. Manchmal sieht auch ein Richter, daß die Kinder<br />
eigentlich nicht verwahrlost sind, denn sie seien wohlgenährt und<br />
verhielten sieh bei ihren Pflegeeltern bisher artig und zeigten sich<br />
durchaus bildungsfähig. Da aber bei dem anscheinend unverbesserlichen<br />
Herumvagabundieren der Eltern mit der Zeit eine sittliche Verwahrlosung<br />
der Kinder unvermeidbar sein würde, entschloß man sich<br />
doch zur Fürsorgeerziehung. In einigen Fällen mußten sogar die<br />
Mütter ihre Kinder abstillen. Nur einmal lehnte der Richter den Fürsorgeantrag<br />
ab, „da in der erst ,dreivierteljährigen Maria Reinhardt<br />
kein sittlich verwahrlostes Kind erblickt werden könne".<br />
Manchmal scheiterte das ganze Unternehmen auch an der<br />
Schwierigkeit, die zahlungspflichtige Stelle ausfindig zu machen. Oft<br />
waren — besonders außerhalb Württembergs — die Erhebungen über<br />
Staats- und Heimatzugehörigkeit unmöglich, da man nicht einmal die<br />
Geburtstage und -orte der Kinder und Eltern ermitteln konnte. Da setzte<br />
dann der bürokratische Kampf ein. So kann man z. B. in dem geharnischten<br />
Ablehnungsbescheid einer Behörde lesen, daß „der Vater der<br />
Anna Guttenberger am 14. Juni 1913 gar keinen Wohnsitz hatte,<br />
sondern als Taglöhner mit seinem Wohnwagen seit dem 30. März<br />
1912 in den Oberämtern Leonberg und Ludwigsburg herumzog Für<br />
das Kind aber komme für den fraglichen Tag (der Festnahme) nicht<br />
der Wohnsitz der Eltern, sondern der tatsächliche Aufenthaltsort des<br />
Kindes in Frage. Die Anna Reinhardt wohnte aber am 14. Juni 1913<br />
in bzw. unter dem Wohnwagen ihres Großvaters Guttenberger, und<br />
zwar stand dieser hart an der Staatsgrenze Schwieberdingen —<br />
Vaihingen" usw. Noch im Jahre 1939 führte ein süddeutsches Fürsorgeamt<br />
über zwei Jahre einen hartnäckigen Kampf mit einer Land-