Eva Justin
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Lebensschicksale artfremd erzogener Zigeunerkinder 59<br />
gehen als andere. Alle naschten. Man könne es ihnen nicht abgewöhnen,<br />
während andere Kinder es schließlich doch ließen, auch wenn<br />
sie sehr schwierig seien.<br />
Die Knaben wurden vor allem für Arbeiten im Stall, im Garten<br />
und auf dem Feld verwendet, für körperlich schwere Arbeit seien sie<br />
im allgemeinen nicht zu gebrauchen. Am besten arbeiteten sie im<br />
Garten, auch gingen sie gut mit dem Vieh um. Im Durchschnitt hätten<br />
sie mehr Interesse an der Pflege von Tieren und Pflanzen als andere<br />
Kinder. Im ganzen seien ihre Leistungen aber bescheiden. Sie hätten<br />
so wenig Ausdauer, man müßte immer hinter ihnen her sein. Auch<br />
überlegten sie_. ihre Arbeit zu wenig und liebten die Abwechslung.<br />
Nur bei Sammelarbeiten im freien Gelände seien sie unübertrefflich.<br />
Stets brächten Zigeunerkinder — Knaben und Mädchen — doppelt<br />
und dreifach so viel Hagebutten und Heidelbeeren nach Hause wie<br />
andere Kinder. Bei Spaziergängen im Oktober und November fänden<br />
sie immer noch Haselnüsse, wenn andere Kinder und auch Erwachsene<br />
überhaupt keine mehr sähen.<br />
Wir konnten uns mehrfach von der Richtigkeit dieser Angaben<br />
überzeugen. Folgende Beobachtung bestätigt, daß Zigeuner für Dinge<br />
ihres Interessenkreises, •bei Aufgaben, die ihren körperlichen und<br />
geistigen Kräften angepaßt sind, erstaunliche Ausdauer und Zielsicherheit<br />
entwickeln können.<br />
Igel sucheif.<br />
Nach einer längeren Regenzeit wurde das Wetter wieder freundlicher<br />
und an dem ersten sonnigen Herbsttag sagte die VL. zu dem 14jährigen<br />
Zweigerli: „Wir wollen heute mittag Stachelengero suchen und dann im<br />
Wald braten. Verrate aber noch nichts den anderen, ich muß erst die Oberin<br />
fragen, wir nehmen nur die großen Buben mit." Vor Freude schlug er die<br />
Hände zusammen,• hüpfte von einem Bein auf das andere und versprach den<br />
Mund zu halten. Als die VL. nach einer Stunde auf den Hof ging,<br />
kamen ihr schon die Zigeunerbuben geschlossen entgegen. Um die Stärke<br />
der Versuchung, der Zweigerli erlegen war, richtig einzuschätzen, muß man<br />
wissen, daß der Igelbraten der größte Leckerbissen eines Zigeuners ist und<br />
eine Art Nationalgericht für ihn bedeutet. Das Zusammengehörigkeitsgefühl<br />
mit den Stammesbrüdern und das Mitteilungsbedürfnis, das durch die in<br />
Aussicht gestellte Freude des freien Suchens im Wald, des Herumhockens uni<br />
das vertraute Feuer und des unvergleichlichen Schmauses geweckt worden<br />
war, mußte stärker sein als die verpflichtende Bindung an eine Fremde trotz<br />
guten Kontakts mit ihr.