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pfeilgerade mit dem Luftstrom durchs<br />
Gartentürchen gelaufen, und alle haben<br />
sich gefragt, wie ich das treffen konnte.<br />
ICH HÖREAN<br />
DEN SCHUHEN<br />
UNDAM<br />
SCHNAUFEN,<br />
OB MEIN PARTNER<br />
20 METER<br />
ÜBER MIR PIAZT,<br />
GRÄTSCHT<br />
ODER EINEN<br />
QUERGANG HAT.<br />
Knie durchstrecken, 15 Prozent Körpergewicht<br />
nach rechts vorne … sonst<br />
fallen wir um. Das nennt sich Propriorezeption.<br />
Bei mir ist diese Wahrnehmung<br />
natürlich besonders gut ausgeprägt,<br />
beim Spazierengehen nehme ich jeden<br />
Kanaldeckel, jede Neigung des Asphaltes<br />
mit meiner Fußsohle ganz genau auf.<br />
Was ist noch gut ausgeprägt?<br />
Ich habe ein ziemlich mieses Namensgedächtnis,<br />
kann mich aber nach Jahren<br />
daran erinnern, wo sich mein Partner<br />
nach welcher Länge ausgegebenen Seils<br />
befindet. Wenn ich eine Route gescannt<br />
habe, dann kenne ich sie. Ein neuer<br />
Kletterpartner ist schon mal von den<br />
Socken, wenn ich ihm zurufe, dass er<br />
jetzt nach links greifen soll, weil da ein<br />
schöner Untergriff kommt.<br />
Funktioniert dieses Scannen nur über<br />
deinen Tastsinn?<br />
Aber nein! Mein Gehirn weiß ja nicht,<br />
dass ich blind bin, also macht es sich<br />
ein Bild aus dem, was mir an Sinnen<br />
zur Verfügung steht. Das sind immerhin<br />
noch vier. Und ich verfüge über<br />
mehr Ressourcen, denn Bilder brauchen<br />
Rechenleistung und Speicherplatz. Diese<br />
Kapazität steht mir extra zur Verfügung.<br />
Ich höre an den Schuhen und am<br />
Schnaufen, ob mein Partner 20 Meter<br />
über mir piazt, grätscht oder einen<br />
Quergang hat. Jede Kante, jede Felsformation<br />
bringt Verwirbelungen mit sich,<br />
so kann ich aus jedem Luftzug Informationen<br />
generieren. Als Bub bin ich<br />
Hast du auch so etwas wie einen siebten<br />
Sinn?<br />
Das will ich nicht behaupten, aber<br />
nennen wir es Intuition. Die führt<br />
dazu, dass ich nicht immer allen einfach<br />
hinterhersteige. Bilder sind oberflächlich<br />
und trügerisch. Meine Wahrnehmung<br />
kann man mit einer auf Parametern basierenden<br />
Modellrechnung vergleichen.<br />
Ähnlich wie beim Wetterbericht.<br />
Apropos … wie war denn das Wetter<br />
am 21. Mai <strong>2017</strong> um 7.20 Uhr?<br />
Da stand ich auf dem Gipfel des Mount<br />
Everest, und das Wetter war großartig.<br />
War das der Augenblick deines<br />
Lebens?<br />
Am Tag danach war ich kritisch, weil ich<br />
dort oben so hautnah den Tod gespürt<br />
habe, so weit weg von der Erde, als stünde<br />
ich im Vorhof zum Himmel. Aber<br />
heute beflügelt es mich. Bergsteigerisch<br />
war es nicht die Welt, da habe ich schon<br />
andere Sachen bewältigt, aber symbolisch<br />
war es die größte Sache meines<br />
Lebens. Meine Eltern haben den kleinen<br />
Jungen ohne Augenlicht in die weite<br />
Welt gelassen, und dieser Weg führte<br />
mich auf den physikalisch höchsten<br />
Punkt unseres Planeten. Ich bin sehr<br />
gläubig und habe mit dem lieben Gott<br />
einen Pakt geschlossen: Wenn er mich<br />
lebendig runterlässt von diesem Berg,<br />
dann werde ich die Botschaft in die<br />
ganze Welt posaunen.<br />
Ist es diese Botschaft, dass du den<br />
Sehenden die Augen öffnen möchtest,<br />
so wie der Titel deiner Vortragsreihe<br />
lautet?<br />
Die Botschaft ist, dass Sehen für mich<br />
Realisieren heißt. Jeder Mensch ist verschieden,<br />
deshalb sollten wir versuchen,<br />
die anderen zu verstehen … und nicht<br />
ständig auf unsere eigene Perspektive<br />
hereinfallen.<br />
Foto: www.dachsteinschuhe.com<br />
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