bull_01_03_Tradition
Credit Suisse bulletin, 2001/03
Credit Suisse bulletin, 2001/03
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
Schwierig findet sie dagegen, diese <strong>Tradition</strong>en fernab der Heimat<br />
an ihre drei Kinder weiterzugeben. Konsum- und Vergnügungssucht<br />
seien einfach zu allgegenwärtig. «Da ist es schwierig,<br />
gegen Luxus und Gier anzureden. Aber ich lasse nicht locker»,<br />
sagt Dechen Emchi entschlossen. Und so verordnet sie schon<br />
mal freiwillige Arbeit, wenn diese nicht ganz so spontan kommt,<br />
wie sie sich das wünschen würde. «Im Kulturzentrum lasse ich<br />
die Kinder gelegentlich Couverts einpacken.»<br />
Im tibetischen Kulturzentrum in Zürich, das sie zusammen mit<br />
ihrem Lebenspartner aufgebaut hat und betreibt, sorgt sie dafür,<br />
dass auch die Jungen ihre Wurzeln nicht vergessen. Sie organisiert<br />
Vorträge und Diskussionen, Feste und tibetische Tanzabende.<br />
Bei letzteren macht sie «mit grosser Begeisterung selber<br />
mit, in der tibetischen Tracht, die ich sehr gerne trage».<br />
Dechen Emchi<br />
Tibeterin<br />
«Ich setze alles daran, die tibetischen<br />
<strong>Tradition</strong>en zu leben und zu verteidigen.»<br />
Der Altar in ihrem Schlafzimmer mit den Buddhas, Glückssymbolen,<br />
Schutzgöttinnen und Reisschalen ist der Ort der Einkehr,<br />
wo Dechen Emchi am Morgen dafür betet, dass sie tagsüber<br />
«allen Lebewesen gegenüber die grosse Empathie aufbringt»,<br />
die der Buddhismus von ihr verlangt. Am Abend dann denkt sie<br />
in dieser ruhigen Ecke über den Tag nach, bedankt sich für die<br />
guten Erlebnisse und versucht, aus ihren Fehlern zu lernen.<br />
In jüngster Zeit allerdings sind diese Meditationen oft weggefallen,<br />
weil sie mit ihrer Umschulung von der Krankenpflegerin<br />
zur Kosmetikerin zu sehr beschäftigt war. «Das muss sich ändern,<br />
denn mir fehlt etwas, wenn ich mir die Zeit für diese Gebete<br />
nicht nehme.»<br />
In ihrem neuen Kosmetik-Studio dagegen, wo sie auch tibetische<br />
Massagen anbietet, kann sie die Werte, die ihr so wichtig<br />
sind – Güte, Mitleid, Mitfreude und Gleichmut –, gut leben.<br />
«Wenn ich spüre, dass jemand Probleme hat, dann versuche ich<br />
zu helfen, auch wenn die bezahlte Stunde längst abgelaufen ist.»<br />
Und zur Gratwanderung zwischen Gelassenheit und Geschäftssinn<br />
meint sie: «Ich setze alles daran, die tibetischen <strong>Tradition</strong>en<br />
zu leben und standhaft zu verteidigen, was mir inzwischen<br />
auch gelingt.»<br />
Für die Befreiung kämpfen<br />
In ihrem gemieteten Reihen-Einfamilienhaus am Fusse des Üetlibergs<br />
dagegen erinnern neben dem Altar nur noch das tibetische<br />
Mandala an der Haustüre an ihre Herkunft, während sie das übrige<br />
Mobiliar unlängst durch hiesiges ersetzt hat. «Wichtig sind nicht<br />
die einzelnen Gegenstände, sondern die Lebenshaltung.»<br />
Als Dechen Emchi 1969 mit ihrer Familie – sie hat sieben<br />
Geschwister – in die Schweiz, ins Tösstal, kam, hat sie sich anfänglich<br />
gewundert, wenn die Kinder auf dem Pausenplatz ihre<br />
Brote verzehrten, ohne vorgängig ihren Mitschülern etwas anzubieten.<br />
«Bei uns hat man immer automatisch alles geteilt.»<br />
An den Tibet ihrer Kindheit erinnert sich die 45-Jährige,<br />
obschon sie 1959 bei der Flucht nach Indien erst drei Jahre alt<br />
war. «Ich sehe sanfte Landschaften vor mir und höre den Lärm<br />
von fröhlichen Kinderspielen.» Schwache Erinnerungen, sicher,<br />
stark ist dagegen die Sehnsucht nach ihrer Heimat. «Wir Tibeter<br />
im Westen haben die moralische Pflicht, immer wieder an das<br />
Schicksal des besetzten Tibet zu erinnern und uns für die<br />
Befreiung stark zu machen.» Eine Befreiung, die illusorisch<br />
bleibt? «Das muss nicht so sein. Mit dem Fall der Berliner Mauer<br />
hat lange Jahre auch niemand gerechnet.»<br />
Für schlicht unmöglich hält sie, dass sich die Tibeter eines<br />
Tages mit den Chinesen arrangieren. «Wir haben mit den Chinesen<br />
absolut nichts gemein, weder kulturell, ethnologisch, linguistisch<br />
noch kulinarisch. Oder haben Sie schon einmal einen Chinesen<br />
gesehen, der Buttertee trinkt?»<br />
Wenig Verständnis hat Dechen Emchi, die «gerne in der<br />
Schweiz lebt», für jene Stimmen, die den Tibet als Theokratie<br />
kritisieren. «Sicher, die hierarchischen Strukturen könnten gelockert<br />
werden, <strong>Tradition</strong> hin oder her.» Doch gleichzeitig fügt sie<br />
bei: «Der Dalai Lama ist mein grosses Vorbild.» Und mit Blick auf<br />
die tibetischen <strong>Tradition</strong>en meint sie: «Bei uns haben sich wunderbare<br />
<strong>Tradition</strong>en erhalten, die keinesfalls verändert werden<br />
dürfen. Dazu gehört unser Umgang mit den alten Menschen. Im<br />
Tibet würde nie jemand in ein Altersheim abgeschoben. Daran<br />
werde ich mich in der Schweiz nie gewöhnen.» Karin Burkhard<br />
12 Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong>