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Credit Suisse bulletin, 2001/03
Credit Suisse bulletin, 2001/03
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Am Ende der Pilgerreise, der Erlösung ein Stück näher:<br />
Kathedrale von Santiago de Compostela.<br />
Santiago – kopflos über Jahrhunderte wirksam<br />
Ein fragwürdiger Leichnam schreibt seit zwei Jahrtausenden<br />
Kulturgeschichte und setzt bis heute Massen in Bewegung.<br />
St. Jakob lebt.<br />
Der Apostel Jakobus, sagt die Legende, war ein wortgewaltiger<br />
Agitator im Dienste des Herrn. 44 Jahre nach Christus soll er von<br />
einem jüdischen Schriftgelehrten denunziert worden sein. Herodes<br />
Agrippa liess ihn in Jerusalem einen Kopf kürzer machen.<br />
Damit der kopflose Jakob nicht im Heiligen Land unsinnig verrottete,<br />
soll der «Engel des Herrn» die Überfahrt des Leichnams<br />
persönlich organisiert und ihn innert sieben Tagen mit einem Teil<br />
seiner Jünger übers Meer nach Galizien transferiert haben.<br />
Pilger-Label wird kreiert<br />
Auf der himmlischen Schifffahrt wurde mit der Legende auch das<br />
Label der Pilgerscharen, die Jakobsmuschel, kreiert. Das Pferd<br />
eines portugiesischen Ritters scheute vor dem unirdischen Licht,<br />
das die Leiche des Heiligen über dem Meer umgab und warf seinen<br />
Reiter in die Fluten. Der Unglückliche wurde der Mannschaft<br />
des «Traumschiffes» zugespült. Die Jünger entdeckten, dass der<br />
Gerettete über und über mit Jakobsmuscheln bedeckt war.<br />
Jakobus wurde in Santiago de Compostela begraben und<br />
revanchierte sich für den Platz in christlicher Erde mit gut platzierten<br />
Wundern. Trotzdem blieb das Grab lange von geringer<br />
Fotos: Lucia Degonda, Spanisches Fremdenverkehrsamt<br />
Bedeutung. Erst im Jahr 759 liess Alfonso II von Asturien eine<br />
Kirche über den Gebeinen des Heiligen Jakob errichten. Seine<br />
Nachfolger bauten das Gotteshaus systematisch zur Kultstätte<br />
und zur europäischen Kapitale des Pilgertums aus. Die ersten<br />
schriftlichen Belege über die Pilgerstätte finden sich im Martyrologicum<br />
des französischen Mönches Usard und wurden 865<br />
nach Christus publiziert. Als Schutz und Schirm wider die Mauren<br />
war der Reliquienschrein von umstrittenem Inhalt ein zentraler<br />
Teil der PR-Kampagne für die Kreuzzüge.<br />
Im 12. Jahrhundert, das Gotteshaus war bereits zur Basilika<br />
avanciert, wälzten sich die Pilger und Pilgerinnen zu Tausenden<br />
mit der Muschel am Umhang über deutsche und französische<br />
Wege nach Santiago de Compostela. Und überall am Weg entstanden<br />
neue Gotteshäuser, wurden Pilgerherbergen hochgezogen.<br />
Reisende aus allen Regionen Europas suchten beim Heiligen<br />
die Erfüllung ihrer geheimen Wünsche, büssten auf dem<br />
langen Weg weltliche und religiöse Vergehen, holten sich einen<br />
schnellen Ritterschlag für den Gang ins Heilige Land oder hatten<br />
sich ganz einfach aus der unerträglichen Enge ihres heimischen<br />
Daseins davon gemacht.<br />
Über die Jahrhunderte weg schützte der kopflose Jakob Ritter<br />
und «Siechend Sennen», machte sich als Schutzpatron der<br />
Arbeiter und Lastträger nützlich und breitete seinen heiligen<br />
Mantel über die unterschiedlichsten Städte.<br />
Der Journalist Norman Foster schreibt über die Pilgerstätten<br />
des späten Mittelalters: «Die Strasse nach Jerusalem war durchtränkt<br />
vom Blut europäischer Edelleute, die Strasse nach Rom<br />
gepflastert mit den schändlichen Geschäften korrupter Kirchenherren;<br />
aber die Strasse nach Santiago war der Schlüssel, der<br />
das Verlies Europa zu künstlerischer Lebenskraft öffnete.»<br />
Europa belebt St. Jakob<br />
«Das Verlies Europa» hat sich 1987 erneut auf den Mythos der<br />
Jakobswege eingeschworen. Der Europarat erklärte das Wegnetz<br />
nach Santiago zur europäischen Kulturstrasse und empfahl den<br />
Schutz des historischen, literarischen, musikalischen und künstlerischen<br />
Erbes, das durch das Pilgerwesen entstanden war. Folgerichtig<br />
wurden die Jakobswege in Deutschland, Frankreich und<br />
der Schweiz eruiert, ausgebaut und ausgeschildert. Die vier grossen<br />
Zufahrtswege, auch der aus dem süddeutschen Raum und<br />
der Schweiz, vereinigen sich jenseits der Pyrenäen zum «camino<br />
francés», der die Pilger und Pilgerinnen über 700 Kilometer gemeinsam<br />
dem Ziel, Santiago de Compostela, zuführt.<br />
Ein Jahr nach der europäischen Deklaration wurde in Lausanne<br />
die «Schweizerische Vereinigung der Freunde des<br />
Jakobsweges» gegründet. Ihr Zentralsekretariat an der Route<br />
de Montfleury 38 in 1214 Vernier unterstützt künftige Pilgerinnen<br />
und Pilger mit Material, Erfahrungsberichten, Adressen<br />
und dokumentiert den kulturellen Hintergrund. Aber auch<br />
Schweiz Tourismus und lokale Verkehrsvereine setzen auf den<br />
heiligen Weg und – wie in alten Zeiten – auf Prosperität dank<br />
Pilgerreisen.<br />
Credit Suisse<br />
Bulletin 3|<strong>01</strong><br />
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