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Credit Suisse bulletin, 2001/03

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LEADERS<br />

Modernisierungsprozesse bringen nur für<br />

Demokratien Chancen. Andere Staaten<br />

laufen Gefahr, zerstört zu werden.<br />

C.P. Im Juli werden Sie Führungspersönlichkeiten<br />

aus Politik und Wirtschaft in der<br />

Schweiz begegnen (siehe Box rechts). Wie<br />

sehen Sie dabei Ihre Rolle?<br />

M.V.L. Interessant an derlei Anlässen ist,<br />

dass sie erlauben, mit Leuten aus anderen<br />

beruflichen Gebieten Gedanken auszutauschen.<br />

In der fragmentierten und spezialisierten<br />

Welt von heute ist der Dialog unter<br />

solchen Fachleuten wichtig. Die Spezialisierung<br />

in den Wissensgebieten birgt die<br />

Gefahr, dass dieser Dialog abbricht. Im<br />

Alltag gibt es für solchen Austausch kaum<br />

Zeit und Platz. Deshalb ist eine WINconference<br />

eine gute Sache.<br />

C.P. Wo profitieren Sie konkret?<br />

M.V.L. Ein Schrifsteller muss immer versuchen,<br />

Probleme aus verschiedenen<br />

Perspektiven zu verstehen. Als Intellektueller<br />

muss er dabei klar machen, welche<br />

Rolle die Kultur in allen Aspekten des Lebens<br />

spielt – in der Politik, in der Wirtschaft,<br />

im Sozialen. Mir scheint, ich kann<br />

immer zweierlei beitragen zu Fragen, die<br />

mit Literatur vordergründig nichts zu tun<br />

haben. Zum einen auf dem Gebiet der<br />

Sprache; sie richtig zu brauchen nützt allen.<br />

Das zweite ist, für die Kraft der Phantasie<br />

und der Vorstellungskraft zu sprechen.<br />

Das Rohmaterial eines Schrifstellers<br />

ist die Phantasie – ein Gut von enormer<br />

Bedeutung. Denn ohne Phantasie wird all<br />

unser Tun mechanisch und Routine. Und<br />

mechanisches Handeln und Routine sind<br />

grosse Hindernisse für den Fortschritt.<br />

Mario Vargas Llosa, Schriftsteller<br />

WINTERTHUR UND CREDIT SUISSE LADEN ZUM FESTIVAL DER PERSPEKTIVEN<br />

Der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa gehört zu den grossen Namen<br />

der Weltliteratur. Der in Arequipa, Peru, 1936 geborene Autor ist einer der<br />

prominenten Teilnehmer, die sich am 5. und 6. Juli 20<strong>01</strong> in Interlaken zur WINconference<br />

20<strong>01</strong> treffen werden. Zum Thema «Wandel und Herausforderungen»<br />

sprechen über zwanzig Referenten aus Politik, Wirtschaft und Kultur – unter<br />

ihnen der deutsche Aussenminister Joschka Fischer, Bundesrat Joseph Deiss,<br />

Unicef-Direktorin Carol Bellamy oder Javier Solana, aussen- und sicherheitspolitischer<br />

Repräsentant der EU. Die WINconference ist Teil der Initiative<br />

«Thought Leader Programme», das die Credit Suisse Financial Services, dem<br />

die Teams der Credit Suisse und Winterthur angehören, mit dem Besuch des<br />

Uno-Generalsektretärs Kofi Annan im Frühjahr 20<strong>01</strong> lanciert hat.<br />

C.P. Sie haben in Ihren Romanen eine vielzahl<br />

wunderbarer Figuren geschaffen. Welche<br />

dieser «Persönlichkeiten» würden Sie<br />

nach Interlaken an die WINconference<br />

schicken, wenn Sie einen Stellvertreter<br />

brauchen würden?<br />

M.V.L. Ich würde mich nie getrauen, eine<br />

Auswahl zu treffen. Schliesslich fühle ich<br />

mich gegenüber meinen Romanfiguren<br />

wie ein Vater mit seinen Kindern. Und<br />

selbst wenn ich die eine oder andere in<br />

meinem Innersten mehr mag – es wäre<br />

gegen meine Moralvorstellungen, eine<br />

meiner Figuren zu bevorzugen (lacht).<br />

C.P. Wer ist für Sie ein Thought Leader unserer<br />

Zeit, den Sie bewundern?<br />

M.V.L. Eine Person, für die ich enorm<br />

Respekt empfinde, ist ein Intellektueller,<br />

der in der Lage war, den Sprung von der<br />

Literatur in die Politik zu vollziehen: Vaclav<br />

Havel. Er fing aus moralischen Gründen<br />

an, für die Freiheit in seinem Vaterland zu<br />

kämpfen. Er war übrigens auch ein Staatspräsident,<br />

dessen Reden ein Genuss<br />

«Mechanisches Handeln und<br />

Routine sind grosse Hindernisse<br />

für den Fortschritt.»<br />

waren. Und das ist selten, werden doch<br />

die Reden von Staatsoberhäuptern meist<br />

von irgendwelchen Sekretären geschrieben<br />

und sind voller Gemeinplätze und<br />

Klischees. Havels Reden hingegen sind<br />

geistreich, lebhaft, polemisch.<br />

C.P. Welches ist für Sie der bedeutendste<br />

Wandel, der sich in der Welt vollzieht?<br />

M.V.L. Mich fasziniert, dass in unserer<br />

Welt die Ländergrenzen langsam verschwinden.<br />

Zwar werden dadurch die Nationen<br />

nicht einfach aufgelöst; sie werden<br />

jedoch mehr und mehr zu Symbolen und<br />

Mythen. Die Welt rückt zusammen. Falls<br />

sich dieser Trend fortsetzt, dann verschwindet<br />

einer der wichtigsten Gründe<br />

grosser kriegerischer Katastrophen: die<br />

Abneigung gegenüber dem Andersartigen,<br />

das Sichverbarrikadieren hinter der eigenen<br />

Religion, Nation und Kultur. Eine Geschichte<br />

ohne Blutvergiessen – ich weiss,<br />

das ist noch Utopie. Ich spüre aber, dass<br />

es in diese Richtung geht.<br />

C.P. Wo ist die Menschheit heutzutage am<br />

meisten gefordert?<br />

M.V.L.. Im Kampf gegen die Armut. Zwei<br />

Drittel der Menschen leben unter unakzeptablen<br />

Bedingungen. Glücklicherweise haben<br />

wir heute erstmals in der Geschichte<br />

die Mittel, gegen diese Armut zu kämpfen.<br />

Heute könnten wir die Schlacht gewinnen<br />

– wir besitzen dazu das Wissen und die<br />

Technologie. Noch fehlt indes der politische<br />

Wille, dies auch durchzusetzen.<br />

74 Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong>

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