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Credit Suisse bulletin, 2001/03

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TRADITION<br />

JACQUELINE PERREGAUX Gibt es eine typische Schweizer <strong>Tradition</strong>?<br />

WERNER MEYER Das kann man so nicht sagen, weil die Schweiz<br />

kein eigener Kulturraum ist. Sie ist durchschnitten von Kulturraumgrenzen,<br />

die aber über die Landesgrenzen hinauslaufen. So gehört<br />

etwa die Südschweiz zum lombardischen südalpinen Kulturraum,<br />

der alpine Kulturraum reicht von den Seealpen bis nach Slowenien,<br />

und Basel ist Teil des Kulturraums Oberrhein. Abgesehen von<br />

ausgesprochen politisch-patriotischen <strong>Tradition</strong>en, die sich im letzten<br />

Jahrhundert entwickelt haben – zum Beispiel der Nationalfeiertag<br />

–, kann man deshalb nicht von einer eigentlichen Schweizer<br />

<strong>Tradition</strong> sprechen.<br />

J.P. Wann spricht man generell von <strong>Tradition</strong>?<br />

W.M. Wenn etwas mehr als nur eine Gewohnheit ist, bewusst<br />

betrieben wird und als gut und erwünscht betrachtet wird. Eine<br />

schlechte <strong>Tradition</strong> ist also ein Widerspruch in sich. Und etwas,<br />

das einfach «schon immer so gemacht» wurde, ist noch keine<br />

<strong>Tradition</strong>, selbst wenn es uralt ist.<br />

J.P. Gibt es einen Unterschied zwischen Brauch und <strong>Tradition</strong>, oder<br />

anders gefragt, wann wird aus einem Brauch eine <strong>Tradition</strong>?<br />

W.M. Es gibt <strong>Tradition</strong>en, die keine Bräuche sind, aber ein Brauch<br />

ist auf jeden Fall an eine <strong>Tradition</strong> gebunden. Die Fasnacht beispielsweise<br />

ist ein Brauch und hat eine <strong>Tradition</strong>. Und die Tatsache,<br />

dass die öffentlichen Verkehrsbetriebe in Basel mehrheitlich Trams<br />

anstelle von Bussen haben, ist eine <strong>Tradition</strong>, aber kein Brauch.<br />

J.P. Was braucht es, damit etwas zur <strong>Tradition</strong> wird?<br />

W.M. In erster Linie Trägerschaften, die sie betreiben, seien das<br />

nun Vereine, Gruppen oder Familien. Es gibt natürlich auch <strong>Tradition</strong>en<br />

kleinerer Gruppen. Aber die <strong>Tradition</strong> muss von einer Gruppe<br />

als solche wahrgenommen werden; eine «Individualtradition»<br />

ist ein Widerspruch. Das Zitat «<strong>Tradition</strong> ist die Weitergabe der<br />

Flamme, nicht der Asche» bringt es auf den Punkt: Eine <strong>Tradition</strong><br />

muss etwas Lebendig-Erlebtes beinhalten und in einer Gruppe<br />

verankert sein. Sie kann nicht einfach ein Szenario sein, welches<br />

hinterher immer wieder durchgespielt wird.<br />

Fotos: Thomas Schuppisser<br />

J.P. Wie entstehen <strong>Tradition</strong>en?<br />

W.M. Sie werden nicht als <strong>Tradition</strong>en in die Welt gesetzt, sondern<br />

entstehen mehr durch ein Erkennen im Nachhinein, dass etwas<br />

zur <strong>Tradition</strong> geworden ist. Es ist also eine Frage der Bewusstseinsbildung<br />

und nicht der Kreativität.<br />

J.P. Sonst erkaltet sie und wird zu «Asche»...<br />

W.M. Die «Asche» könnte man im Folklorismus sehen. In der<br />

Innerschweiz gibt es noch Sennen, die im Sommer auf ihrer Alp<br />

jeden Abend den Alpsegen singen. Das ist Ausdruck einer lebendigen<br />

<strong>Tradition</strong>. Wenn jedoch Leute, die keinen eigentlichen Bezug<br />

zum Leben als Senn haben, sich einmal monatlich in eine Tracht<br />

stürzen und zu irgendwelchen Klängen irgendwelche Tänze aufführen,<br />

um nachher wieder in ihren Alltag zurückzukehren, dann<br />

ist das Folkloristik. Und das ist nichts anderes als «Asche», erkaltete,<br />

erstarrte <strong>Tradition</strong>, die an der Oberfläche bleibt.<br />

J.P. Braucht eine <strong>Tradition</strong> auch ein Datum?<br />

W.M. Die Bindung an ein Datum kann natürlich einen festigenden<br />

Charakter haben, ist aber nicht zwingend. Die Ethnologie<br />

spricht vom Wiederholungsritual, wenn etwa ein Fest an einen<br />

Termin oder eine Jahreszeit gebunden ist. Unsere technisierte<br />

Welt lässt uns jedoch immer unabhängiger werden von der Jahreszeit.<br />

Das führt zu einer Verflachung von zeitlich gebundenen<br />

Bräuchen, es sei denn, sie werden durch andere Bedürfnisse gestützt.<br />

Wenn zum Beispiel auf dem Land die männliche Jugend<br />

den Mädchen ein Kompliment machen möchte, dann stellt sie ihnen<br />

einen Maibaum vors Haus. Das entspricht einem echten,<br />

zeitlosen Bedürfnis und wird darum auch weiterhin so betrieben.<br />

J.P. Gibt es auch falsche <strong>Tradition</strong>en?<br />

W.M. Es existieren allenfalls <strong>Tradition</strong>en, die sich durch falsche<br />

Vorstellungen legitimieren, ohne dass sie deswegen selber falsch<br />

sein müssen. Nehmen wir das Beispiel des 1.-August-Feuers.<br />

Es wurde um 1890/91 eingeführt – darf also ruhig als <strong>Tradition</strong><br />

bezeichnet werden – und geht auf ältere sommerliche Feuerbräuche<br />

zurück. Heute ist jedoch vielerorts die Vorstellung verbreitet,<br />

diese Feuer beruhten darauf, dass anno 1291 in der<br />

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Bulletin 3|<strong>01</strong><br />

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