bull_01_03_Tradition
Credit Suisse bulletin, 2001/03
Credit Suisse bulletin, 2001/03
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EDITORIAL<br />
Schwerpunkt: «<strong>Tradition</strong>»<br />
Geliebte, gehasste <strong>Tradition</strong><br />
<strong>Tradition</strong>... vor meinem geistigen Auge erscheinen<br />
seltsamerweise automatisch Sennenkäppis und<br />
Fahnenschwinger, obwohl ich als unverbesserliche<br />
Städterin keinen Bezug zum alpinen Brauchtum<br />
habe und noch nie auch nur als Zaungast bei einem<br />
Älplerfest dabei war.<br />
Wo <strong>Tradition</strong> ist, ist das Klischee nicht weit, muss<br />
ich bei mir selber erkennen. Und ich ertappe mich<br />
dabei, wie ich mit dem Gedanken an <strong>Tradition</strong>en in<br />
erster Linie «Heile Welt» verbinde: Volksfeste,<br />
Weihnachten, Ballenberg.<br />
Im Gegenzug überfällt mich zwischendurch ein<br />
Unbehagen über die Instrumentalisierung und das<br />
Verdrehen von <strong>Tradition</strong>en. Da werden Kulturgüter<br />
zerstört, weil sie angeblich Zeugnis einer unwillkommenen<br />
<strong>Tradition</strong> sind, da wird Geschichte zurechtgebogen,<br />
um politischen Profit daraus schlagen zu<br />
können.<br />
<strong>Tradition</strong> polarisiert. Das merke ich nicht nur an<br />
meinem eigenen Umgang mit dem Thema. <strong>Tradition</strong>sbewusste<br />
stehen Modernisten gegenüber, die<br />
Bewahrer den Erneuerern. In einer Zeit der Beliebigkeit<br />
können <strong>Tradition</strong>en einerseits einen willkommenen<br />
Halt bieten; sie vermitteln ein Gefühl der<br />
Zugehörigkeit, etwa zu einer Familie, einem Berufsstand<br />
oder einem Volk. Sie sind Teil einer gemeinsamen<br />
Geschichte, ein verbindendes Element und<br />
haben dadurch eine zentrale Bedeutung für jede<br />
Gesellschaft. Andererseits möchten sich viele von<br />
<strong>Tradition</strong>ellem abgrenzen. Anlässe und Bräuche,<br />
denen das Etikett «traditionell» anhaftet, werden als<br />
altbacken empfunden, stossen auf Ablehnung.<br />
<strong>Tradition</strong> polarisiert. Und das ist gut so. Denn sie<br />
braucht die Diskussion, das Hinterfragen, die Auseinandersetzung.<br />
Nur so bleibt sie lebendig, nur so<br />
kann sie bestehen.<br />
Jacqueline Perregaux, Redaktion Bulletin,<br />
Credit Suisse Private Banking<br />
Credit Suisse<br />
Bulletin 3|<strong>01</strong><br />
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