Die Power des Positiven Der Swing, der Jazz der Dreissigerjahre, wird wieder entdeckt.
SPONSORING Fotos: Archiv Theo Zwicky, mr.jazz Photo Files, Zürich, Stockphoto Text: Peter Rüedi* Die Kunst hat viele Motoren, so auch der Jazz. Es gibt das, was der Kritiker Marc Blitzstein «the incredibly powerful jazz of fear» nannte: die Angst, die einen Charlie Parker zu seinen Attacken gegen das Nichts antrieb; der gebrochene Glanz im Gesang von Billie Holiday; die Alpträume, die Bud Powell in verstörte Schönheit verwandelte; die Nachtschattenklänge von Chet Baker. Die Untergeher in dieser Musik sind so zahlreich, dass längst eine «tragische Jazzgeschichte» fällig wäre. Auch Wut ist ein Antrieb, bei archaischen Blues-Sängern ebenso wie bei Charles Mingus. Fast vergessen wir darob: Auch das Gegenteil ist eine Kraft, die Kunst schafft. Der «Swing», der Jazz, grob gesagt, war zwischen 1933 und 1945 insgesamt eine einzige Manifestation von Lebensfreude, Zuversicht, Optimismus, Lebensmut. Den auszudrücken gab es nach dem Ende der Prohibition ebenso viele Gründe, wie es nach Ausbruch des Kriegs Gründe gab, ihn sich einzureden. In Wahrheit war diese urbane, elegante Musik von Anfang an naive vitale Lebensfreude, Raffinement und Eskapismus in einem. Schwarzen brauchte keiner die dunklen Seiten des Lebens vor Augen zu halten, auch nicht Ende der Dreissigerjahre, als die strikte Trennung in schwarze und weisse Bands etwas durchlässiger wurde. Swing erzählt von der Süsse Dennoch weht uns diese Musik an wie Mozart die Menschen des frühen 19. Jahrhunderts: Wer die Zeit vor der Französischen Revolution nicht erlebt habe, sagte Talleyrand, wisse nichts «von der Süsse des Lebens». Nie zuvor und nie danach war so viel populäre Musik gut und so viel gute Musik populär wie zur Zeit des Swing. Mehr als das so genannte «Jazz Age» der Zwanzigerjahre war sie das «goldene Zeitalter» des Jazz. Es fiel zusammen mit Aufstieg und Fall des Mediums, das ihn erst möglich gemacht hatte. Mit den vier überregionalen Networks eröffnete es, eine eigentliche nationale Bildungsanstalt, dem grossen Publikum den Zugang zu allem. «Radio Days»: Die Sender der vier nationalen Networks waren nicht spezialisiert, sie sendeten klassische Musik, Jazz, Country, Hörspiele auf ein und demselben Kanal; der Star Toscanini stand nicht über oder unter, sondern neben den Chefs der bekanntesten Big Bands. Im Swing drängte der Jazz ins (relativ) grosse Format, einfach, weil dieses ökonomisch tragbar wurde. Ein Grossteil der Musik war «live». Aller Swing war Tanzmusik. Erst in den frühen Vierzigerjahren begann sich das Publikum zu trennen in Konzerthörer und Tänzer. Nie vergesse ich die Ratlosigkeit von Count ▼ ▼ ▼ Benny Goodman Quartet: Teddy Wilson Piano Gene Krupa Drums Lionel Hampton Vibraphon Benny Goodman Clarinet 1938 Art Tatum Piano 1953/54 Basie, der, nach seinem Revival um 1960 zu einer «Dance Party» ins Zürcher Kongresshaus lud und in das ehrfurchtsvoll an der Rampe gestaute Publikum rief: «Don’t you like our music?». Sie mochten sie zu sehr, um sie als Gebrauchsmusik zu nehmen. Schliesslich rührt zu Brahms «Ungarischen Tänzen» auch keiner ein Bein. Der Lindy Hop setzt Virus Die Tänzer waren die wirtschaftliche Grundlage der grossen Orchester des Swing: in Clubs, Ballrooms, um unzählige Pavillons der Vergnügungszentren vor den grossen Städten, auch in den Kinos. Von da übertrugen die Radiostationen, und das minderte die Attraktivität der Live-Veranstaltungen nicht. Im Gegenteil. Der «Lindy Hop» (1927 nach dem Ozean-Überflieger Charles Lindbergh genannt) und der «Jitterbug» breiteten sich aus wie eine Epidemie. Weil mit dem Radio auch das Marketing von Musik erfunden wurde und weil es der grosse Klarinettist und Bandleader Benny Goodman so wollte, der ein noch grösserer Verkäufer seiner selbst war, hält sich die Legende, die Swing-Ära sei in der Nacht des 21. August 1935 im Palomar Ballroom von Los Angeles geboren worden. Goodman, Sideman in vielen Bands der Zwanzigerjahre und dann ein erfolgreicher Studio- Musiker, gründete 1934 seine erste Big Band. Er bekam sogar seine eigene Show bei *Peter Rüedi ist Buchautor und unter anderem bekannter Jazzkritiker bei der «Weltwoche». Credit Suisse Bulletin 3|<strong>01</strong> 67