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Credit Suisse bulletin, 2001/03
Credit Suisse bulletin, 2001/03
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ECONOMICS & FINANCE<br />
FINANCIAL<br />
SERVICES<br />
Das Tessin ist weit mehr als nur beliebte Feriendestination für zahlungskräftige<br />
Deutschschweizer. Fast unbemerkt vom Rest der Schweiz entwickelt<br />
sich der Südkanton zum gefragten Wirtschaftsstandort, der Investoren aus<br />
dem In- und Ausland anlockt. Sara Carnazzi, Economic Research & Consulting<br />
Fotos: Peter Tillessen<br />
Denkt man ans Tessin, so überwiegen<br />
nördlich der Alpen noch immer Assoziationen<br />
von lauen Sommernächten in<br />
Strassencafés und gemütlichen Grottobesuchen.<br />
Das Klischee der Sonnenstube<br />
wurzelt tief. Natürlich ist das Gastgewerbe<br />
nach wie vor ein wichtiger Sektor der<br />
Tessiner Wirtschaft. Der Kanton hat es<br />
jedoch verstanden, im Laufe der Jahre zu<br />
diversifizieren und seine Branchenstruktur<br />
zu bereichern, indem er sich auf wettbewerbsfähige<br />
Industriezweige ausgerichtet<br />
hat, welche zum dynamischen Sektor der<br />
Finanzdienstleistungen hinzukommen.<br />
In der Schweiz wird der Sonderstatus<br />
des Tessins oft verkannt. Institutionell<br />
betrachtet gehört der Kanton Tessin zwar<br />
zur Schweiz, sprachlich und kulturell jedoch<br />
zu Italien.<br />
Mailand lockt und beängstigt zugleich<br />
Wenn auch in vielerlei Hinsicht vom italienischen<br />
Nachbarn angezogen, spürt man<br />
im Tessin oft ein Unbehagen gegenüber<br />
Italien. Verständlich, wenn man bedenkt,<br />
dass allein der Grossraum Mailand 13-mal<br />
mehr Einwohner hat als das ganze Tessin<br />
(Abbildung 2). Vor diesem Hintergrund ist<br />
auch die Ablehnung der bilateralen Verträge<br />
zu deuten. Viele Tessiner befürchteten,<br />
dass dem norditalienischen Wirtschaftskoloss<br />
die Schleusen geöffnet würden.<br />
Definiert man eine grenzüberschreitende<br />
Makroregion, die das Tessin und die<br />
norditalienischen Regionen Lombardei,<br />
Piemont, Valle d’Aosta, Veneto und Trentino<br />
Alto Adige umfasst, so wäre dieser<br />
hypothetische Staat mit seinen rund 20<br />
Millionen Einwohnern hinsichtlich des<br />
Bruttoinlandprodukts und des Pro-Kopf-<br />
Einkommens einer der reichsten Europas.<br />
Das Schicksal des Tessins und der italienischen<br />
Regionen, die nur durch eine politische<br />
Grenze voneinander getrennt sind,<br />
ist im Gefolge der Globalisierung wieder<br />
miteinander verflochten. Und dies unabhängig<br />
von den Fortschritten der europäischen<br />
Einigung. Das Tessin sollte den<br />
norditalienischen Wirtschaftsraum nicht<br />
als Bedrohung sehen, sondern als zusätzliches<br />
Einzugsgebiet mit dynamischen und<br />
kaufkräftigen Märkten, in denen es als<br />
ergänzender Partner auftreten kann.<br />
Der Tessiner Arbeitsmarkt war für<br />
italienische Arbeitskräfte schon immer<br />
sehr attraktiv, und das Phänomen der<br />
Grenzgänger prägt seit Jahrzehnten die<br />
Wirtschaft des Kantons (siehe Box). Aber<br />
auch bei den Handelsströmen sind die<br />
wechselseitigen Beziehungen zwischen<br />
dem Tessin und Italien ausgeprägt. Der<br />
Anteil Italiens an den Exporten des Tessins<br />
beträgt 27,6 Prozent. Bei den Importen<br />
deckt Italien hingegen 63,3 Prozent des<br />
Tessiner Bedarfs ab. Ein Vergleich mit<br />
dem entsprechenden Landesdurchschnitt<br />
lässt die Bevorzugung des italienischen<br />
Handelspartners deutlich hervortreten:<br />
Der Anteil Italiens an den schweizerischen<br />
Exporten liegt bei 7,3 Prozent, derjenige<br />
an den Importen in die Schweiz bei 9,6<br />
Prozent.<br />
DER OFFENE ARBEITSMARKT: DIE ROLLE DER GRENZGÄNGER<br />
Jeden Morgen drängen über 30 000 Grenzgänger aus Italien ins Tessin. Sie<br />
decken knapp 20 Prozent der Gesamtbeschäftigung im Kanton ab und machen<br />
75 Prozent der dort tätigen ausländischen Arbeitskräfte aus. Im Schweizer<br />
Durchschnitt liegt der Anteil der Grenzgänger an den Beschäftigten bei<br />
vier Prozent. Die Verbesserung der Konjunkturlage im Laufe des Jahres 2000<br />
hat dem Phänomen der Grenzgänger südlich der Alpen nach neun Jahren<br />
ununterbrochenen Rückgangs neuen Schub verliehen.<br />
Seit jeher spielen Grenzgänger im Tessin die Rolle eines Konjunkturpuffers.<br />
Das grosse Reservoir an wenig qualifizierten und billigen Arbeitskräften hat<br />
in der Vergangenheit die Ansiedlung von Produktionstätigkeiten mit geringer<br />
Wertschöpfung im Tessin begünstigt, was die Branchenstruktur geprägt und<br />
in Krisenzeiten anfälliger gemacht hat. Die Abschwächung der Lohnunterschiede<br />
zwischen Italien und der Schweiz hat das Tessin für solche Produktionstätigkeiten<br />
weniger attraktiv gemacht. Das hat einen Teil der Tessiner<br />
Unternehmen veranlasst, Arbeit durch Kapital zu ersetzen, was zur Steigerung<br />
der Wettbewerbsfähigkeit beigetragen hat. Damit wandelt sich auch das<br />
Gesicht der Grenzgänger: Die Zahl höher qualifizierter Arbeitskräfte steigt an.<br />
Die bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen<br />
Union über den freien Personenverkehr verändern den Grenzgängerstatus. Es<br />
sind nur noch eine wöchentliche und nicht mehr eine tägliche Rückkehr an<br />
den Wohnsitz sowie die Einführung der geografischen und beruflichen Mobilität<br />
vorgesehen. Viele fürchten sich vor Lohndumping und massivem Zustrom<br />
italienischer Arbeitskräfte. Dennoch bringt die Annäherung an Europa dem<br />
Tessin mehr Vor- als Nachteile.<br />
Die im Oktober 2000 publizierte Regionalstudie «Tessin und die Regionen<br />
Norditaliens. Struktur und Perspektiven» kann über http://<strong>bull</strong>etin.creditsuisse.ch/service/shop/ger/privat/economic_research/<br />
bestellt werden.<br />
Credit Suisse<br />
Bulletin 3|<strong>01</strong><br />
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