bull_01_03_Tradition
Credit Suisse bulletin, 2001/03
Credit Suisse bulletin, 2001/03
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TRADITION<br />
Fotos: André Muelhaupt<br />
Iris von Roten<br />
«Statt Abenteuer gab<br />
es für die jungen<br />
Mütter nur quengelnde<br />
Säuglinge.»<br />
waren, ein ziemlich kümmerliches Leben zu führen: «Wilde Abenteuer,<br />
lockende Ferne, tolle Kraftproben, Unabhängigkeit, Freiheit,<br />
das schäumende Leben schlechthin, schien in Tat, Wort und<br />
Schrift den Männern vorbehalten zu sein. Für die heranwachsenden<br />
Mädchen aber sah es aus, als ob sie bei Stricken, Kochen<br />
und Putzen und in Gesellschaft von quengelnden Säuglingen<br />
eine Art zweiter Kindheit von bodenloser Langeweile zu erwarten<br />
hätten. Da trat an Stelle des Vaters einfach ein Ehemann, der<br />
ebenfalls befehlen konnte, weil er bezahlte.»<br />
Männliches Machtmonopol gefährdet<br />
Das war starker Tobak für die Schweizer Männer. Iris von Rotens<br />
gleichermassen brillante wie radikale Abrechnung mit dem herrschenden<br />
Männerkollektiv brüskierte selbst jene, die ihr grundsätzlich<br />
nahe standen. Denn sie zeichnete das Patriarchalische,<br />
das alle Lebensbereiche der Gesellschaft durchdrang, so minutiös<br />
und für ihre Zeit so ungewöhnlich klarsichtig nach, dass<br />
damals übliche Redensarten wie «Wenn wir nur schön zusammenspannen…»<br />
als naives Geschwätz entlarvt wurden. Für die<br />
Frauen hiess das: Ihre Lebenslüge war in Gefahr. Und für die<br />
Männer: Ihr Machtmonopol wurde in Frage gestellt.<br />
Kein Wunder, dass von beiden Seiten blindwütig geschossen<br />
wurde. Erstaunlich war nur das Ausmass dieser Blindwütigkeit.<br />
Die Buchrezensionen reichten von bösartigen Unterstellungen bis<br />
hin zu überspannten Verrissen, die sich im Nachhinein so lesen,<br />
als sei gar nicht von «Frauen im Laufgitter» die Rede, sondern<br />
von einem Pornobuch oder einer Anleitung zum Männergenozid.<br />
Erst viele Jahre später, 1991, ist «Frauen im Laufgitter» neu<br />
aufgelegt worden – und wurde sofort zu einem Bestseller. Denn<br />
in den Neunzigerjahren war die Zeit reif für Frauenanliegen.<br />
In der Tat sind viele Forderungen, die Iris von Roten in den<br />
Fünfzigern aufstellte und die damals als anmassende Attacken<br />
auf Männervorrechte galten, in der Zwischenzeit längst erfüllt.<br />
Iris von Roten hat ihre Rehabilitierung und den Grosserfolg<br />
ihres Werks nicht mehr erlebt. Genauso wenig wie ihr Mann,<br />
Peter von Roten, der ihren Erfolg jedoch vorhersah: «Dein Buch<br />
wird noch in 2000 Jahren gelesen. Aber ich sage das nicht unüberlegt,<br />
sondern im Ernst … ein für seine Zeit bahnbrechendes<br />
Werk wie die Bücher des Kopernikus oder des Keppler.»<br />
Doch selbst Polittraditionen sind nichts Statisches. In den vergangenen<br />
Jahren jedenfalls hat – und da sind die mutigen<br />
Vorkämpferinnen wohl nicht ganz unschuldig – eine wohltuende<br />
Öffnung stattgefunden. Selbst die sakrosankten Institutionen<br />
unseres Staatskörpers dürfen heute einer Leibesvisitation unterzogen<br />
werden, ohne dass der Urheber der Kritik gleich geköpft<br />
wird.<br />
Das hat sich unlängst bei der Auseinandersetzung mit Walter<br />
Wittmanns neustem Œuvre «Direkte Demokratie – Bremsklotz<br />
der Revitalisierung» gezeigt. Sicher, es gab die blasierten Stimmen,<br />
die nur abwiegelten, aber es gab auch eine intelligente<br />
Debatte über die bedenkenswerten Punkte in Wittmanns Polemik.<br />
Ähnliches gilt für den Diskurs über die schweizerische Neutralität<br />
oder die nicht mehr ganz so heilige Zauberformel.<br />
Erst kaltgestellt, dann gefeiert<br />
Eine vergleichbare Öffnung ist derzeit auch in der Schweizer<br />
Wirtschaft zu beobachten. Wer nicht zum Establishment gehört,<br />
nicht in einer traditionellen Männerbündelei verankert ist, hat<br />
zwar nach wie vor einen schweren Stand, findet seltener Gehör<br />
und bleibt, auch wenn er finanziell erfolgreich ist, ein Aussenseiter<br />
– jüngstes Beispiel ist der Financier René Braginsky –,<br />
doch derzeit wird mit vielen <strong>Tradition</strong>en gebrochen.<br />
Dazu gehört das grosse Schweigen rund um die Löhne, das<br />
über Generationen in der Schweizer Arbeitswelt zu den Konventionen<br />
zählte, die man nicht antasten durfte. Sei es unter dem<br />
Druck der Globalisierung oder neuer Gesetzgebungen, Tatsache<br />
ist, dass die Extreme an beiden Enden, die schamlos hohen und<br />
die schäbig tiefen Gehälter, im Moment kritisch hinterfragt<br />
werden.<br />
Noch immer recht rigide funktioniert der Wissenschaftsbetrieb.<br />
Forscher, die sich nicht an die gängigen Thesen halten und<br />
mit bewährten Forschungstraditionen brechen, werden erst einmal<br />
kaltgestellt. Das ist jedoch keineswegs nur ein schweizerisches<br />
Phänomen. «Die Wissenschaft reagiert nicht sehr flexibel<br />
auf neue Erkenntnisse», sagt Udo Pollmer, Lebensmittelchemiker<br />
und einer der profiliertesten Wissenschaftskritiker Deutschlands,<br />
«auf diese Weise bremst sie den Fortschritt eher, als dass sie<br />
ihn vorantreibt.» Er selber erlebt das momentan in der BSE-<br />
Forschung, die unbequeme Erkenntnisse «einfach unterschlägt».<br />
Und so sei es kein Wunder, dass der «Fortschritt schon immer<br />
von Leuten gekommen ist, die nicht zum System gehört haben»:<br />
von Galileo Galilei über Charles Darwin bis Albert Einstein oder<br />
Werner Forssmann.<br />
Letzterer hatte bahnbrechende neue Methoden der Behandlung<br />
von Herzkrankheiten aufgezeigt, die bei den arrivierten<br />
Wissenschaftern erst nur Kopfschütteln auslösten. «Mit solchen<br />
Kunststücken habilitiert man sich im Zirkus und nicht an einer anständigen<br />
Klinik», beschied ihm Kollege Ferdinand Sauerbruch.<br />
1956 wurde Forssmann für seine Verdienste mit dem Nobelpreis<br />
für Medizin ausgezeichnet.<br />
Für eine vitale Schweiz braucht es deshalb nicht nur aufgeschlossene<br />
<strong>Tradition</strong>alisten, sondern auch mutige <strong>Tradition</strong>sbrecher.<br />
Sie sorgen dafür, dass nicht jene gefährliche Behaglichkeit<br />
aufkommt, die so oft in Selbstgefälligkeit und Stagnation mündet.<br />
Credit Suisse<br />
Bulletin 3|<strong>01</strong><br />
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