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bull_01_03_Tradition

Credit Suisse bulletin, 2001/03

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TRADITION<br />

Innerschweiz Burgen angezündet worden seien und dass es seit<br />

damals Brauch sei, am 1. August Feuer zu entzünden. Das ist<br />

natürlich ein Unsinn. Man kann aber durchaus 1.-August-Feuer<br />

anzünden im Bewusstsein, dass es sie seit 1891 gibt.<br />

J.P. Wie grenzen Sie <strong>Tradition</strong> und Mythos ab?<br />

W.M. Ein Mythos ist immer ein Erklärungs- und gleichzeitig ein<br />

Legitimierungsversuch für Grundsätzliches. Das Infragestellen<br />

von Mythen ist daher oft eine sensible Thematik. Allerdings darf<br />

man etwas nicht verwechseln: Wer einen Legitimierungsmythos<br />

in Bezug auf seine historische Realität durchleuchtet, stellt damit<br />

ja nicht die Sache selber oder eine <strong>Tradition</strong> in Frage, sondern<br />

nennt den Mythos beim Namen. Mit anderen Worten: Die Existenzberechtigung<br />

der Schweiz wird nicht bestritten, wenn man<br />

feststellen kann, dass der Rütlischwur nicht stattgefunden hat.<br />

J.P. Ist das Festhalten am Mythos vielleicht auch Ausdruck von<br />

<strong>Tradition</strong>alismus?<br />

W.M. <strong>Tradition</strong>alismus heisst ja, dass etwas seine Legitimität<br />

allein dadurch erhält, dass es <strong>Tradition</strong> ist, und nicht aufgrund<br />

seines Inhalts. Neues wird nur abgelehnt, weil es eben neu ist.<br />

In der Schweiz gibt es dazu eine Reihe von Beispielen, etwa der<br />

Umgang mit der Neutralität in Kreisen, welche die Schweiz gerne<br />

als «Sonderfall» darstellen. Oft ist dieser Umgang von einer<br />

beachtlichen Unkenntnis der Neutralitätsgeschichte und des<br />

Neutralitätsinhalts geprägt: Dass noch vor 150 Jahren die Entsendung<br />

von Söldnern ins Ausland und der Abschluss von Soldverträgen<br />

mit dem Ausland in keiner Weise als neutralitätswidrig<br />

galt, wissen diese Kreise offenbar nicht. Hier dient der <strong>Tradition</strong>alismus<br />

dann fast als Ersatz für rationale Argumente und läuft<br />

Gefahr, in Fundamentalismus überzugehen.<br />

J.P. Was ist mit dem Missbrauch von <strong>Tradition</strong>en? <strong>Tradition</strong>en können<br />

einen ja auch von Erklärungsnotständen befreien.<br />

W.M. Dazu gehört etwa die Vorstellung, die Schweizer Demokratie<br />

sei angeblich auf dem Rütli erfunden worden, obwohl die<br />

ersten Ansätze zu demokratischen Formen erst in die Zeit der<br />

Helvetischen Republik fallen. Auch unser militärisches Milizsystem<br />

wurde in der heutigen Form erst im 19. Jahrhundert, im Zeitalter<br />

der Nationalstaaten, geschaffen. Es wird aber unbedenklich<br />

in die Anfänge der Eidgenossenschaft zurückdatiert und damit<br />

fundamentalistisch begründet. Das Entscheidende ist, dass das<br />

Rütteln an diesen Überlieferungen als Rütteln an Identitätsfundamenten<br />

ausgelegt wird.<br />

J.P. Wer sie in Frage stellt, gilt also als Verräter?<br />

W.M. Nicht zwingend. Oft findet eine Vermengung von Gruppenoder<br />

Volksidentität und persönlicher Identität statt. Das führt<br />

dazu, dass man sich persönlich betroffen fühlt und den Eindruck<br />

gewinnt, wenn dies oder jenes nicht mehr gelten soll, dann wird<br />

einem der Boden unter den Füssen weggezogen.<br />

J.P. Das zeigt aber doch, wie weit die Identifikation mit bestimmten<br />

Vorstellungen gehen kann.<br />

W.M. Genau. Ein weiteres Beispiel, bei dem es um die Identität<br />

geht, ist die Vorstellung der Schweizer als Volk von Bauern und<br />

Hirten. Gemessen an der Gesamtbevölkerung gab es im Gebiet<br />

der heutigen Schweiz zu keiner Zeit mehr Bauern oder Hirten als<br />

in anderen Ländern Europas. Die politische Führung ging immer<br />

von einer kleinen Gruppe aus. Es trifft also auch nicht zu, dass<br />

die eidgenössischen Bauern grosse Kompetenzen hatten. Aber<br />

die Vorstellung, dass dem so war, wird bis heute sichtbar. Wer<br />

bei der Ankunft in Zürich-Kloten das Flughafengebäude durch einen<br />

bestimmten Eingang betritt, wird von einem Stillleben mit<br />

Kuhglocken und Ähnlichem begrüsst. So wird einem sofort deutlich<br />

gemacht, dass man jetzt im Land des Sennenkäppis ist.<br />

J.P. War «Bauer» nicht ursprünglich ein Schimpfwort?<br />

W.M. Ja, und interessant ist, dass der Vorwurf, die Schweizer<br />

seien Bauern, zuerst von aussen kam, aus dem süddeutschen<br />

Humanismus und dem urbanen, gebildeten Italien. Das fing<br />

schon im 15. Jahrhundert an. Wie so oft bei Schimpfwörtern<br />

wurde es dann umgedreht. «Bauer» war kein Schimpfwort mehr,<br />

sondern die Schweizer sollten stolz auf ihre angeblich einmalige<br />

bäuerliche <strong>Tradition</strong> sein.<br />

Credit Suisse<br />

Bulletin 3|<strong>01</strong><br />

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