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Credit Suisse bulletin, 2001/03

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TRADITION<br />

Genauso wenig frömmlerisch verbrämt ist die Pilger-Kontaktbörse<br />

unter www.ultreia.ch: Ursula möchte mit dem Fahrrad von Bern<br />

nach Santiago starten und sucht weitere Fahrradfreaks. Auch<br />

Ekkehard setzt aufs Zweirad, favorisiert aber zwei- bis dreiwöchige<br />

Etappen mit Pausen vom frommen Tretgang. Sebastian<br />

(«21/m») ist «gut zu Fuss» und hat schon 11 Wochen Jakobsweg<br />

abgewandert. Diesen Sommer will er weitere drei Wochen marschieren<br />

und sucht Gesellschaft. Joseph hat das «Jahrtausend<br />

auf dem Pilgerweg nach St. Jakob abgeschlossen» und möchte<br />

seine Erfahrungen bei einem «Glas Wein weitergeben».<br />

Kontaktbörse verkuppelt Pilger<br />

Und die «Internationale Bruderschaft» wirbt unter http://members.tripod.es<br />

für die «Via Europae», fördert den Kontakt zwischen<br />

Santiagopilgerinnen und -pilgern und erklärt: «Der Jakobsweg<br />

hat uns geprägt, und wir sind davon überzeugt, dass<br />

es etwas Gutes ist, das die ganze Welt, ja die ganze Welt,<br />

kennen lernen sollte.» www.franziska.ch ist seit dem dritten April<br />

dabei, «das Gute zu erfahren». Am 15. Mai lässt sie die Internetgemeinde<br />

aus Navarette wissen: «Etwas müde, langsam gelaufen.»<br />

Franziska verliert sich nicht gerade in religiöser Verzückung,<br />

sie spiegelt eher die Stimmung einer Schulreise:<br />

«Endlich essen, viel trinken, endlich geduscht, endlich schlafen<br />

gehen.» Aber trotz Wandervogel-Touch hat Franziska nicht vergessen,<br />

den Pilgerstempel von Navarette im Netz aufzuschalten.<br />

Jolanda Blum, Autorin des im Ott-Verlag gerade neu aufgelegten<br />

Wanderführers «Jakobswege durch die Schweiz», interpretiert<br />

die Gewohnheiten und den Ton der neuen Pilgergemeinde:<br />

«Der Pilgernde erlebt die Ruhe und den Lärm. Mögen alternative<br />

Formen des Tourismus wie zum Beispiel das Mountain-Bike-<br />

Abenteuer angeboten werden, ‹der Weg› entspricht nach wie<br />

vor einem Lebensprozess. … Jeder Pilgernde begegnet unterwegs<br />

seinen eigenen Grenzen und erfährt Situationen, die ihm<br />

seine realen Bilder, Vorstellungen, Ängste und Sicherheiten<br />

zusammenbrechen lassen.»<br />

«Wer nach St. Jakob geht», assistiert Thomas Binotto der<br />

Autorin des Wanderführers, «geht auf eine Sinnsuche». «Und es<br />

ist eine Illusion», insistiert der Redaktor des Kirchenblattes, «zu<br />

meinen, man könne eine Wallfahrt losgelöst von der Kirche abziehen.<br />

Wäre dem so, würden die Wallfahrtswege schon längst<br />

zu Bill Gates führen.»<br />

Binotto mag richtig liegen, aber ein schöner Teil der neuen<br />

Pilgerinnen und Pilger würde ihm nicht lauthals zustimmen. Der<br />

Manager eines mittelgrossen und global agierenden Industrieunternehmens<br />

unterstreicht kurz vor dem Start zum Fussmarsch<br />

nach Santiago sein kulturelles Interesse und vergisst nicht zu erwähnen,<br />

er gehöre der katholischen Kirche nicht an. Ein fünfzigjähriger<br />

Romanist betont nach dreimonatigem Pilgermarsch<br />

den psychischen Belastungstest des Alleingangs nach Santiago<br />

und lässt jeden, der nicht danach fragt, wissen, er habe den segenbringenden<br />

Mantel des Apostels in der Basilika selbstverständlich<br />

nicht geküsst.<br />

«Erlösung suchen»<br />

Am 25. Juli 1980 feierten rund 150 000 Pilgerinnen und Pilger<br />

den Namenstag Santiago de Compostelas. Das journalistische<br />

Schandmaul Norman Foster war dabei und beschreibt das Zusammengehen<br />

von Volksfrömmigkeit und plumpem Abriss, von<br />

billigen Vergnügungen und exklusivem Prunk und stolpert ganz<br />

am Schluss seines Buches «Die Pilger» in die Falle der Sinnhaftigkeit,<br />

verfängt sich im breit ausgeworfenen Netz tief verwurzelter<br />

christlicher <strong>Tradition</strong>en. Foster staunt über die Poesie Santiagos<br />

wie ein schwärmerisches Kind: «All das erschaffen mit dem<br />

Geist, den Muskeln und der Vorstellungskraft unzähliger anonymer<br />

Menschen, die den langen, mühevollen Weg auf der nicht<br />

enden wollenden Strasse nach Santiago auf sich nahmen, um<br />

ihre Identität zu finden – und Erlösung zu suchen.»<br />

Das Kloster Rüeggisberg (BE) war im Mittelalter eine<br />

wichtige Herberge für Jakobspilger auf dem Weg nach Santiago.

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