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Credit Suisse bulletin, 2001/03

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LUST UND LASTER<br />

Foto: Eva-Maria Züllig<br />

Die grossen Designer in New York, Mailand<br />

und Paris haben dem Gammel-Look<br />

in letzter Zeit die rote Karte gezeigt. Die<br />

Seidenweber und -drucker atmen nach<br />

herben Jahren auf: Luxus und Eleganz<br />

stehen auf dem Programm, der edelste<br />

aller Stoffe ist wieder gefragt. Wenn Christian<br />

Lacroix, Ungaro, Yves Saint-Laurent,<br />

Gaultier, Dolce e Gabbana, Versace, Vivienne<br />

Westwood, Helmut Lang und Co.<br />

den Schönen, Reichen und der Massenkonfektion<br />

ihre Ver-Kleidung für die Saison<br />

des nächsten Jahres verschreiben, sind<br />

oft auch – ungenannt – die Seidenhäuser<br />

aus der Ostschweiz auf dem Laufsteg:<br />

Die Trudel AG und die Desco von<br />

Schulthess AG als Importeure von Rohgeweben<br />

und Rohseide. Weisbrod-Zürrer<br />

in Hausen am Albis, die Gessner AG in<br />

Wädenswil und Trudel als Hauptaktionärin<br />

der Weberei Bosetti in Como mit ihren Stoffen,<br />

die Seidendruckerei Mitlödi aus dem<br />

Glarnerland und schliesslich die Abraham<br />

AG und Fabric Frontline als Zürcher Converter,<br />

Entwerfer von Stoffen für die Haute<br />

Couture und die gehobene Konfektion.<br />

Und die frühere Seidentrocknungsanstalt,<br />

die Testex, die europaweit Qualitätsstandards<br />

für Rohseide entwickelt und als<br />

Textilprüfer international renommiert ist,<br />

dürfte im Hintergrund ihren Teil zur einen<br />

oder andern Robe beigetragen haben.<br />

Seidenherren reden von Liebe<br />

«Was hauptsächlich zählt», gibt Max<br />

Frischknecht, Direktor der Weberei Gessner<br />

AG im zürcherischen Wädenswil, zu<br />

bedenken, «sind Liebe und Hingabe.» Die<br />

Webereien Gessner und Weisbrod sind<br />

die letzten Unternehmen der einst prosperierenden<br />

Ostschweizer Seidenindustrie.<br />

«Für durchschnittliche Kleider können wir<br />

nicht produzieren, auch wenn das Stück<br />

an der Stange 800 Franken kostet, dafür<br />

sind wir zu teuer», konstatiert Urs Spuler,<br />

der Direktor der Seidendruckerei Mitlödi<br />

im Glarnerland.» Und Weisbrod-Zürrer,<br />

der in Hausen am Albis Jacquard-Stoffe<br />

und Seide für die Damenoberbekleidung<br />

webt, beklagt die sinkende Popularität des<br />

Nobelstoffes.<br />

Langzeitig bekümmert gibt sich auch<br />

der Doyen des Hauses Abraham, der<br />

Kunstsammler Gustav Zumsteg. Er zitierte<br />

bereits in den späten Achtzigern den<br />

Modeschöpfer Balenciaga: «Angesichts<br />

der Armut der Bedüfnisse der Frauen ist<br />

meine Rolle zu Ende gespielt» und wollte<br />

eigentlich seinen Abschied zelebrieren.<br />

Aber Gustav Zumsteg ist der Abschied<br />

nicht gelungen.<br />

«Seide ist Sinnlichkeit pur», dröhnt dagegen<br />

André Stutz, ein neuzeitlicher Klon<br />

der grossmächtigen Zürcher Seidenbarone<br />

von einst, und verkauft sein Label Fabric<br />

Frontline quer durch die Printmedien, auf<br />

jedem TV-Kanal von Tokio bis Bern Bümpliz<br />

und an jeder zweiten Schickeria-Fete.<br />

Die Botschaft des füllig-barocken Newcomers<br />

ist zeitgerecht formuliert, aber<br />

eigentlich steinalt. Seit dem 16. Jahrhundert<br />

haben Zürcher Seidenbarone Wirtschaftsgeschichte<br />

geschrieben, international<br />

agiert und diskret und nachhaltig<br />

lokale Geschicke diktiert. Die Verdikte der<br />

Ostschweizer Seidenherren sind Vergangenheit.<br />

1843 beschäftigten die Zürcher<br />

Seidenbarone 18 000 Arbeiterinnen und<br />

Arbeiter, 1999 waren im Seidenhandel, den<br />

Webereien und Druckereien gerade noch<br />

600 Personen beschäftigt. Und – einige<br />

hundert Jahre nehmen sich kläglich aus,<br />

wenn es um die Geschichte des einzigen<br />

Stoffes geht, der die thermischen Eigenschaften<br />

einer zweiten Haut hat.<br />

Seit gut 2000 vor Christus wird in Literatur,<br />

Gesellschaft und Mode der Mythos<br />

«Seide ist Sinnlichkeit pur» zelebriert. Seit<br />

gut 4000 Jahren steht Seide für Luxus,<br />

Laster und Hochkultur und verlangt Hingabe,<br />

Präzision, Feingefühl und unendliche<br />

Mühen.<br />

Credit Suisse<br />

Bulletin 3|<strong>01</strong><br />

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