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Credit Suisse bulletin, 2001/03

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Fotos: Archiv Theo Zwicky, mr.jazz Photo Files, Zürich, Stockphoto<br />

Text: Peter Rüedi*<br />

Die Kunst hat viele Motoren,<br />

so auch der Jazz. Es gibt das,<br />

was der Kritiker Marc Blitzstein<br />

«the incredibly powerful<br />

jazz of fear» nannte: die<br />

Angst, die einen Charlie Parker<br />

zu seinen Attacken gegen<br />

das Nichts antrieb; der gebrochene<br />

Glanz im Gesang von<br />

Billie Holiday; die Alpträume,<br />

die Bud Powell in verstörte<br />

Schönheit verwandelte; die<br />

Nachtschattenklänge von Chet<br />

Baker. Die Untergeher in<br />

dieser Musik sind so zahlreich,<br />

dass längst eine «tragische<br />

Jazzgeschichte» fällig wäre.<br />

Auch Wut ist ein Antrieb, bei<br />

archaischen Blues-Sängern<br />

ebenso wie bei Charles Mingus.<br />

Fast vergessen wir darob:<br />

Auch das Gegenteil ist eine<br />

Kraft, die Kunst schafft.<br />

Der «Swing», der Jazz, grob<br />

gesagt, war zwischen 1933<br />

und 1945 insgesamt eine einzige<br />

Manifestation von Lebensfreude,<br />

Zuversicht, Optimismus,<br />

Lebensmut. Den auszudrücken<br />

gab es nach dem Ende der<br />

Prohibition ebenso viele Gründe,<br />

wie es nach Ausbruch des<br />

Kriegs Gründe gab, ihn sich<br />

einzureden. In Wahrheit war<br />

diese urbane, elegante Musik<br />

von Anfang an naive vitale<br />

Lebensfreude, Raffinement<br />

und Eskapismus in einem.<br />

Schwarzen brauchte keiner<br />

die dunklen Seiten des Lebens<br />

vor Augen zu halten, auch<br />

nicht Ende der Dreissigerjahre,<br />

als die strikte Trennung in<br />

schwarze und weisse Bands<br />

etwas durchlässiger wurde.<br />

Swing erzählt von der Süsse<br />

Dennoch weht uns diese<br />

Musik an wie Mozart die Menschen<br />

des frühen 19. Jahrhunderts:<br />

Wer die Zeit vor der<br />

Französischen Revolution nicht<br />

erlebt habe, sagte Talleyrand,<br />

wisse nichts «von der Süsse<br />

des Lebens». Nie zuvor und<br />

nie danach war so viel populäre<br />

Musik gut und so viel gute<br />

Musik populär wie zur Zeit<br />

des Swing. Mehr als das so<br />

genannte «Jazz Age» der<br />

Zwanzigerjahre war sie das<br />

«goldene Zeitalter» des Jazz.<br />

Es fiel zusammen mit Aufstieg<br />

und Fall des Mediums, das<br />

ihn erst möglich gemacht hatte.<br />

Mit den vier überregionalen<br />

Networks eröffnete es, eine<br />

eigentliche nationale Bildungsanstalt,<br />

dem grossen Publikum<br />

den Zugang zu allem.<br />

«Radio Days»: Die Sender<br />

der vier nationalen Networks<br />

waren nicht spezialisiert, sie<br />

sendeten klassische Musik,<br />

Jazz, Country, Hörspiele auf<br />

ein und demselben Kanal;<br />

der Star Toscanini stand nicht<br />

über oder unter, sondern<br />

neben den Chefs der bekanntesten<br />

Big Bands.<br />

Im Swing drängte der Jazz<br />

ins (relativ) grosse Format,<br />

einfach, weil dieses ökonomisch<br />

tragbar wurde. Ein<br />

Grossteil der Musik war «live».<br />

Aller Swing war Tanzmusik.<br />

Erst in den frühen Vierzigerjahren<br />

begann sich das Publikum<br />

zu trennen in Konzerthörer<br />

und Tänzer. Nie vergesse<br />

ich die Ratlosigkeit von Count<br />

▼<br />

▼<br />

▼<br />

Benny Goodman<br />

Quartet:<br />

Teddy Wilson<br />

Piano<br />

Gene Krupa<br />

Drums<br />

Lionel Hampton<br />

Vibraphon<br />

Benny Goodman<br />

Clarinet<br />

1938<br />

Art Tatum<br />

Piano<br />

1953/54<br />

Basie, der, nach seinem Revival<br />

um 1960 zu einer «Dance<br />

Party» ins Zürcher Kongresshaus<br />

lud und in das ehrfurchtsvoll<br />

an der Rampe gestaute<br />

Publikum rief: «Don’t you like<br />

our music?». Sie mochten sie<br />

zu sehr, um sie als Gebrauchsmusik<br />

zu nehmen. Schliesslich<br />

rührt zu Brahms «Ungarischen<br />

Tänzen» auch keiner ein Bein.<br />

Der Lindy Hop setzt Virus<br />

Die Tänzer waren die wirtschaftliche<br />

Grundlage der<br />

grossen Orchester des Swing:<br />

in Clubs, Ballrooms, um unzählige<br />

Pavillons der Vergnügungszentren<br />

vor den grossen<br />

Städten, auch in den Kinos.<br />

Von da übertrugen die Radiostationen,<br />

und das minderte<br />

die Attraktivität der Live-Veranstaltungen<br />

nicht. Im Gegenteil.<br />

Der «Lindy Hop» (1927<br />

nach dem Ozean-Überflieger<br />

Charles Lindbergh genannt)<br />

und der «Jitterbug» breiteten<br />

sich aus wie eine Epidemie.<br />

Weil mit dem Radio auch<br />

das Marketing von Musik<br />

erfunden wurde und weil es<br />

der grosse Klarinettist und<br />

Bandleader Benny Goodman<br />

so wollte, der ein noch grösserer<br />

Verkäufer seiner selbst<br />

war, hält sich die Legende,<br />

die Swing-Ära sei in der<br />

Nacht des 21. August 1935<br />

im Palomar Ballroom von<br />

Los Angeles geboren worden.<br />

Goodman, Sideman in vielen<br />

Bands der Zwanzigerjahre und<br />

dann ein erfolgreicher Studio-<br />

Musiker, gründete 1934 seine<br />

erste Big Band. Er bekam<br />

sogar seine eigene Show bei<br />

*Peter Rüedi ist Buchautor und<br />

unter anderem bekannter<br />

Jazzkritiker bei der «Weltwoche».<br />

Credit Suisse<br />

Bulletin 3|<strong>01</strong><br />

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